Ende August, ein Termin in der piemontesischen Provinz Cuneo am Sonntagabend und Montag: Das wäre eigentlich ein Fall für eine Flugreise gewesen, nach Mailand oder Turin; der Sonntag wäre in Flughäfen verbracht worden, Montag abend geht nichts mehr weg, also Rückkehr mit Umsteigen irgendwann am Dienstag nachmittag. Ein Reiseformat, das schon früher wenig Freude bereitet hat und in Zeiten der Pandemie gänzlich unattraktiv geworden ist – nicht nur weil sich der Service in den Lounges mittlerweile auf trockenes Backwerk beschränkt. Andere Formen des Kollektivverkehrs kommen prinzipiell nicht in Frage.
Gut, daß es das Auto gibt – wohlgemerkt ein Auto mit Verbrennungsmotor, denn eines der hochgepriesenen Elektroautos wäre für die geplante Fernreise wegen der notwendigen Ladestopps völlig ungeeignet. Vor der Tür steht ein Testwagen mit Tradition und hohem Faszinationspotential: Ein G-Modell von Mercedes-Benz, und zwar in der Einstiegsvariante G 350 d, für die ohne Extras knapp 100 000 Euro den Besitzer wechseln müssen.
Teuer war das G-Modell schon immer. Doch als es vor mehr als 40 Jahren vorgestellt wurde, verstand man unter “Einstiegsvariante” den 230 G mit 90 PS starkem Ottomotor – oder den 240 GD mit seinem 72 PS-Selbstzünder. Von Langstreckenkomfort konnte keine Rede sein. Und das wurde erst langsam besser: Die ursprüngliche Baureihe 460 wurde zum 461, schon 1990 kam der 463 hinzu, der bis 2018 vom Band lief. Antriebs- und Federungskomfort waren bei diesem Modell erheblich gesteigert, Handlichkeit und Spurtreue blieben jedoch bis zuletzt verbesserungswürdig.
Das hat sich beim 2018 vorgestellten und völlig neukonstruierten Nachfolgemodell geändert, das kurioserweise weiterhin auf die Bezeichnung 463 hört. Kein Blechteil oder Fenster wurde vom Vorgänger übernommen, das Fahrzeug ist erheblich breiter, im Interieur dominieren zahlreiche Übernahmeteile aus den modernen Pkw-Baureihen von Mercedes-Benz. Vom 286 PS starken 3,0-Liter-Reihen-Sechszylinder ist nur ein gedämpftes Knurren zu hören, der Fahrkomfort ist langstreckentauglich. Die Tour nach Italien wäre in gut acht Stunden zu schaffen, es würde also völlig ausreichen, am Sonntag vormittag zu starten.
Aber das wäre angesichts der reizvollen Alpenüberquerung eigentlich schade, und so fällt die Entscheidung: Die Arbeitsreise wird zum Kurzurlaub. Schon am Freitag geht es los; erstes Ziel ist Brescia, wo am Samstag ein Lancia Beta Berlina in Augenschein genommen werden soll.
Das Türschloß des G 350 d, praktisch das einzige Übernahmeteil vom Vorgänger, öffnet und schließt mit dem wohlbekannten Klacken; die Insassen thronen weit über dem fließenden (oder stehenden) Pkw-Verkehr, das Raumangebot ist großzügig, zumal die Rückbank zuungunsten des Gepäckraums nach hinten gerückt wurde. Vor dem Fahrer erstreckt sich eine Armaturentafel mit einem Anzeigekonzept, das bei den meisten Mercedes-Modellen bereits von der nächsten Generation namens MBUX abgelöst wurde.
Doch das frühere Konzept ist ein wahrer Segen: Zwar ist der Bildschirm noch nicht berührungsempfindlich, dafür lässt sich das System mit dem sauber rastenden, griffgünstigen Dreh-Drücksteller samt der liebevoll “Cobra” genannten Handauflage präzise und ablenkungsfrei bedienen. Diese Lösung funktioniert viel besser als das frustrierende Touchpad der aktuellen Pkw-Modelle, das permanente Korrekturen verlangt. Und obendrein verfügt das alte System noch über Manieren: Es verzichtet darauf, den Nutzer ungefragt zu duzen.
Das Telefon verbindet sich problemlos mit dem Infotainment-System, so daß der frühe Freitagnachmittag noch für Telefonate genutzt werden kann. Der Geräuschpegel im Interieur ist dabei erfreulich niedrig. Auf der Autobahn erweist sich, daß die 286 PS mehr als ausreichend sind, um den G 350 d zügig voranzubringen. Der Sprint von 0 auf 100 km/h dauert nur 7,4 Sekunden, bei 199 km/h läuft der Geländewagen sanft in den Abregler. Weil der Aufpreis für den G 400 d bei nur 3000 Euro liegt, würden wir uns vermutlich für diese per Software von 286 auf 330 PS und von 600 auf 700 Nm gebrachte, ansonsten völlig identische Variante entscheiden. Doch im Grunde reicht der 350er.
Auf jeden Fall ist er sehr viel sparsamer als die alternativ im G 500 und im AMG G 63 angebotenen V8-Ottomotoren. Denn dort werden pro 100 Kilometer selten weniger als 15 Liter Treibstoff in die Brennkammern injiziert. Ganz anders der Diesel: Bei zurückhaltendem Gasfuß haben wir am Tag 1 inklusive Autobahn- und Bergpassagen nur 8,3 Liter verbraucht – ein sensationeller Wert angesichts des erklecklichen Leergewichts von 2,5 Tonnen und eines cw-Werts von bescheidenen 0,54. Über die gesamte Reise hinweg hat der G nur knapp über 10 Liter pro 100 Kilometer konsumiert.
Wir verlassen die Olympia-Autobahn 95 kurz vor Garmisch, um den Kesselberg unter die 19-Zoll-Aluräder zu nehmen. Der Blick schweift nach Norden über das Voralpenland, Bergromantik. Zwei Wochen vorher standen wir hier im Stau, jetzt ist kaum noch Verkehr. Wir rollen durch Wallgau und an Scharnitz vorbei, es folgt die Abfahrt des einst berüchtigten Zirler Bergs und ein Halt am Fuß der eindrucksvollen Martinswand bei Innsbruck.
Der Einstieg zum Kaiser-Max-Steig, lange Zeit anspruchsvollster Klettersteig der Ostalpen, präsentiert sich als kurzer, knackiger Fußmarsch, dann ist Schluß: Keine Ausrüstung, es nieselt, wir müssen heute ohnehin noch weiter. Und zwar über die alte Brennerstraße mit Ausblicken auf die Europabrücke und hübschen Ortsdurchfahrten.
Hier ist praktisch nichts mehr los, seit die Behörden versuchen, den Verkehr auf die Autobahn zu zwingen; wir bleiben unbehelligt. Kurz nach der Staatsgrenze wechseln wir auf die italienische Autobahn und erreichen das Hotel Fiera di Brescia bei Dunkelheit und Gewitter. Eine Unterkunft ohne Luxus, aber günstig, autobahnnah und mit Tiefgarage.
Samstag früh: Die Inspektion eines Lancia Beta Berlina steht auf dem Programm, eines 1,8-Liter-Spitzenmodells der ersten Serie. Die eigenwillige, von Sergio Camuffo konstruierte Limousine soll als Begleitfahrzeug für ein Beta-Rallye-Coupé dienen. Eine vielversprechende Besichtigung, noch gibt es ein kleines Motorenproblem, aber die Entscheidung fällt im Prinzip: Das Auto soll in wenigen Wochen nach Deutschland geholt werden.
Die gehobene Stimmung wird bei Mailand durch ein typisch italienisches Raststätten-Frühstück weiter gesteigert: Eine süße Kaffeevariation, frischgepreßter Orangensaft, Blätterteig-Gebäck. Am Horizont grüßen wieder die Alpen, aber das Wetter ist unsicher. Ich suche nach einem Hotel – ein Zufallsfund und Glücksfall: Das San-Giovanni-Kloster in Saluzzo mit seinen 13 Zimmern. Ein kurzer Anruf, anstatt über eines der großen Portale zu buchen, wird mit kostenlosem Upgrade belohnt.
Saluzzo steckt voller Geschichte; die einstige Markgrafschaft war oft umkämpft und ging Anfang des 17. Jahrhunderts an das Haus Savoyen. Boccaccios Dekameron erzählt die Geschichte der Bauerntochter Griseldis, die den Markgrafen von Saluzzo heiratet und zahlreichen Prüfungen unterzogen wird. Kultur und Geschichte sind hier dicht verwoben, der Aufstieg auf den Campanile lohnt sich ebenso wie der Besuch der Festung mit einer bemerkenswerten Kunstaussstellung. Die Anfahrt zum Kloster durch die verwinkelten Gassen animiert ohnehin nicht dazu, noch einmal ins G-Modell zu steigen, und so erfolgt die Erkundung Saluzzos zu Fuß.
Am Samstagabend ein Höhepunkt: In einem Gewölbe unterhalb des Klosters liegt das Restaurant Castellana, das siebengängige Degustations-Menü wurde mit dem Spitzenkoch Marco Sacco entwickelt. Ein experimentell angelegtes kulinarisches Erlebnis der obersten Kategorie.
Das Programm bei Cuneo beginnt erst am Abend, also ist noch der ganze Sonntag frei. Der Himmel ist nach einem heftigen morgendlichen Gewitter klar. Erfreulich das Zusammentreffen mit einem Profi des Veranstalters TC-Offroad-Trekking aus Goldenstedt, der freigiebig Hinweise gibt: Die berühmte Maira-Stura-Kammstraße ist teilweise gesperrt, die inzwischen – übrigens auf Anweisung der EU – mautpflichtige Ligurische Grenzkammstraße sonntags oft überfüllt.
Eine weitere Option: Die selten befahrene Varaita-Maira-Kammstraße, knapp 45 Kilometer lang und in Denzels berühmtem Alpenstraßenführer mit dem Schwierigkeitsgrad 4-5 bewertet. Für das G-Modell dürfte das kein Problem darstellen, sagt der Experte von TC-Offroad. Das klingt gut – danke für die Ermutigung!
Die Tour zum Ausgangspunkt in Venasca dauert keine halbe Stunde. Dort ist es nicht ganz leicht, den Einstieg in die Route zu finden, weder die Mercedes-Navigation noch die Google-Navigation auf dem Mobilgerät finden die Streckenführung. Die hervorragende Seite alpenrouten.de leistet bei der Suche anfangs unersetzliche Dienste; ab dem Colle della Ciabra ist die Kammstraße dann kaum noch zu verfehlen. Nachdem sie bewaldetes Gelände verlassen hat, schlängelt sich die geschotterte Trasse weitgehend einspurig am Steilhang entlang, wobei bis zum Colle Birrone auch noch einachsig angetriebene Fahrzeuge durchkommen.
Dort, nach ungefähr halber Strecke, wird die Trasse so grob, daß es sich empfiehlt, je nach Fahrzeug nicht nur den (beim G-Modell permanenten) Allradantrieb, sondern auch die Geländeuntersetzung zuzuschalten. Scharfkantige Steine, grobe Stufen und enge Kehren erfordern Umsicht und mit zunehmender Ausgesetztheit auch Nervenstärke. Das kräftige Gewitter sorgt für eine phasenweise verschlammte Piste.
Über 10 Kilometer muss das G-Modell mit äußerster Konzentration bewegt werden, dann wird der Belag besser, die Ausblicke bleiben spektakulär. Am Colle di Sampéyre, von wo man entweder nach Norden ins Varaita-Tal oder nach Süden ins Maira-Tal abfahren könnte, sollte man weiter am Kamm bleiben und noch die letzten 6 Kilometer bis zum Colle Bicocca in Angriff nehmen.
Der Wendeplatz offeriert nicht nur sensationelle Ausblicke zum 3841 Meter hohen Monte Viso, sondern dient auch als Ausgangspunkt für den anspruchsvollen Anstieg zum 3046 Meter hohen Pelvo d’Elva. 300 Höhenmeter, dann Umkehr: Eine Regenfront nähert sich von Westen, und in wenigen Stunden beginnt das Programm in Cuneo.
Dazwischen steht noch eine spektakuläre Abfahrt auf halber Strecke zwischen Colle di Bicocca und Colle di Sampéyre, die tiefe Auswaschungen aufweist und vielleicht noch größere Ansprüche als die Kammstraße stellt, jedoch weniger ausgesetzt ist. In der Maira-Schlucht ist die Straße wieder asphaltiert, weiterhin kühn trassiert und permanentem Steinschlag ausgesetzt. Bis Dronero öffnet sich das Tal zunehmend, und die letzten 50 Kilometer bis zum Hotel verlaufen durch die flache obere Po-Ebene.
Ankunft um 18 Uhr, einchecken: Die Albergo dell’Agenzia ist ein weiteres eindrucksvolles Hotel, mit riesigem Park und antiken Ausgrabungen. Zeitweise residierte hier auch die Steuerbehörde – ein zweifelhaftes Erbe, zumal Ferrari hier den über 200 000 Euro teuren Roma vorstellt. Für dieses Auto bin ich hier, aber das ist eine andere Geschichte. Der Montag steht im Zeichen der Testfahrten durch die Weinberge des westlichen Apennin, und der Ferrari macht der Markenhistorie alle Ehre.
Am Dienstag um 6 Uhr morgens: Noch einmal umdrehen oder losfahren? Ich habe den ganzen Tag Zeit für die Fahrt nach Sindelfingen und könnte mir Zeit lassen. Aber das schöne Wetter lockt: Der Nivolet, 2641 Meter hoch, am Abschluß des 40 Kilometer langen Orco-Tals. Der Paß sollte einst in das Aosta-Tal führen, bis – je nach Quelle – bürokratische Streitigkeiten oder der Gran-Paradiso-Nationalpark den Bau der Nordrampe vereitelten. Die Tour bedeutet einen beträchtlichen Umweg, der den frühen Start rechtfertigt.
Zunächst umfahre ich Turin, indem ich den Colle de Lis unter die Räder nehme, eng und 1311 Meter hoch. An der Paßhöhe zweigt ein Wanderweg zum Monte Arpone ab, 1603 Meter, als Vorposten der Grajischen Alpen mit einem grandiosen Blick über die Poebene. 45 Minuten Aufstieg in völliger Einsamkeit.
Der lange Zeit vergessene Nivolet ist erst durch den Giro d’Italia zu erheblicher Bekanntheit gelangt. Trotzdem ist der Verkehr in der Spätsaison spärlich, die Auf- und Abfahrt frei. Als wir durch das Orcotal zurückfahren und ins Aostatal hinüberschwenken, ist es schon Nachmittag, die Tour wird über den 2469 Meter hohen Großen Sankt Bernhard in die Schweiz fortgesetzt. Auch hier herrscht wenig Verkehr, die elegante Trassenführung erfreut den Fahrer.
In der Schweiz empfiehlt sich allerdings strikte Observanz der Verkehrsregeln. Die Eidgenossenschaft droht drakonische Strafen an, wenn man es versäumt, dem Geßlerhut in Form zahlloser Tempolimits den Gruß zu entbieten, und so beginnt die enervierendste Etappe der Tour. Ich bleibe auf der Landstraße, weil es unsinnig erscheint, für eine Stunde Zeitgewinn eine Jahresvignette zu erwerben. Kurz vor Mitternacht überfahre ich die Grenze nach Deutschland. Dort ist praktisch niemand mehr unterwegs, im Nebel rauscht der G 350 d wie ein Phantom durch die südöstlichen Ausläufer des Schwarzwalds.
Noch 110 Kilometer Autobahn, und um 2 Uhr morgens verschluckt das V8-Hotel in Sindelfingen das G-Modell in der Tiefgarage, während der Fahrer in die Kissen sinkt. Mittwoch Vormittag wartet der nächste Termin: Factory 56 und die neue S-Klasse. Sie ist die andere Ikone im Fahrzeugportefeuille der Stuttgarter.
Und die entgangene Flugreise? Unsere Kurzreise hat bestätigt, daß kein Vielflieger-Status die Freiheit aufwiegt, die der Individualverkehr bieten kann. Insbesondere dann nicht, wenn das Auto so viele Freiheiten erschließt wie das legendäre G-Modell.
Nächstes Jahr soll es von der Baureihe übrigens eine elektrische Version geben. Interessenten, die sich über die Stadtgrenzen hinaus bewegen wollen, empfehlen wir: Stellen Sie sich den Diesel daneben.
Text + Bilder: Jens Meiners