Ein besonderes Fahrzeug in der SL-Geschichte ist der 300 SL mit der Chassisnummer 0011/52. Entwickelt wird er für die Rennsaison 1953, doch er kommt nicht zum Einsatz, weil Mercedes-Benz sich entschließt, ab 1954 wieder in die Formel 1 einzusteigen. Damit wird der „Hobel“, wie das Fahrzeug von den Versuchsingenieuren wegen seiner markanten Frontpartie liebevoll genannt wird, zum Zwischenmodell hin zum Seriensportwagen 300 SL (W 198 I), der 1954 präsentiert wird. Das Einzelstück, seit 1952 ununterbrochen in Werksbesitz und heute in der Obhut von Mercedes-Benz Classic, hat bereits den Motor mit Benzin-Direkteinspritzung. Sein Getriebe ist in Transaxle-Anordnung untergebracht.
Eigentlich verdient vor allem dieses Zwischenmodell die Bezeichnung „Uhlenhaut-Coupé“: Denn der Ingenieur Rudolf Uhlenhaut konstruiert dieses Fahrzeug und es wird genau nach seinen Vorstellungen gebaut. In aller Vollständigkeit trifft das nur für dieses Modell zu. Der „Hobel“ ist auch der einzige SL, dem in der SL-Reihe der Anspruch eines Prototyps zukommt, eines Fahrzeugs, das als Vorstufe für kommende Fahrzeuge vorgesehen ist.
Anders als die vorherigen Rennsportwagen ebenfalls mit der Bezeichnung W 194 (Fahrgestellnummern von 1 bis 10) bleibt die Nummer 11 ein Unikat. Ein Unikat, das vom Motor her den Seriensportwagen 300 SL (W 198 I) beeinflusst, aber vom Fahrwerk her eine Vorstufe zu den Renn- und Sportwagen der Baureihe W 196 bildet, die von 1953 an konstruiert werden und 1954 äußerst erfolgreich im internationalen Renngeschehen mitmischen.
Zunächst fällt nach der überaus erfolgreichen Saison 1952 der Beschluss, auch im Jahr 1953 wieder Sportwagenrennen zu bestreiten. Vor diesem Hintergrund stellt Uhlenhaut den 300 SL (W 194) auf den Prüfstand und kommt zum Ergebnis, dass er in der kommenden Saison nicht mehr konkurrenzfähig ist. Als Verbesserungspotenzial definiert er die Motorleistung, die Bodenhaftung der Hinterachse, die Haltbarkeit der Reifen, die Bremsleistung sowie die Verringerung der Fahrwiderstände. Zugleich hat er damit ein anspruchsvolles Konzept formuliert, das einen Totalumbau des bisherigen W 194 zur Folge haben soll.
Eine umfassende Leistungsoptimierung
Uhlenhaut beginnt mit der Leistungssteigerung des Motors und geht, berechtigterweise, von der Verwendung der Benzineinspritzung aus, die zu diesem Zeitpunkt mit den dazugehörenden peripheren Maßnahmen zu einer Leistung von 214 PS (157 kW) führt. Er warnt aber gleichzeitig davor, das Heil ausschließlich in der Leistungssteigerung zu suchen, und schreibt: „Meines Erachtens wäre es falsch, aufgrund der Leistungssteigerung und der Steigerung des maximalen Drehmomentes eine wesentliche Erhöhung der erzielbaren Durchschnitts-Geschwindigkeiten zu erwarten. Folgende Beispiele stützen diese Ansichten: Auf dem Nürburgring waren weder Kling, Lang noch ich schneller mit dem einwandfrei laufenden Kompressor-SL als mit dem normalen SL.“
Als zweiten Grund führt Uhlenhaut die Senkung des Leistungsbedarfs an. Dazu gehört die Verringerung des Luftwiderstands, was sich als schwierig herausstellt angesichts der Tatsache, dass die sehr optimierte Karosserieform des W 194 kaum verbessert werden kann. Uhlenhaut fordert eine Reduzierung der Stirnfläche, die nur durch eine schmalere Spurweite an Vorder- und Hinterachse möglich ist und somit an der Hinterachse eine neue Lösung erfordert: „Allerdings ist hierbei […] eine Änderung des Hinterachs-Systems im Detail notwendig“, schreibt Uhlenhaut.
Durch die Reduzierung der Stirnfläche errechnet er einen geringeren Leistungsbedarf bei 150 km/h von 2,2 PS (1,6 kW), der sich bei 250 km/h auf 10,5 PS (7,7 kW) erhöht. Eine noch höhere Leistungseinsparung ermittelt er bei einer geänderten Kühlluftführung. Bei der bisherigen Lösung mit Kühlluftanführung unter den Wagen vor der Hinterachse erhöht sich der cW-Wert um 20 Prozent. Führt man die Kühlluft jedoch in der Unterdruckzone hinter den Vorderrädern ab, erhöht sich der cW -Wert nur um 5 Prozent. Diese Maßnahme führt bei 150 km/h zu einem um 6 PS (4,4 kW) und bei 250 km/h zu einem um 17,4 PS (12,8 kW) geringeren Leistungsbedarf. Beide Maßnahmen zusammengenommen ist der Leistungsbedarf bei 250 km/h um 28 PS (21 kW) geringer – eine deutliche Aussage.
Eine weitere Maßnahme ist die Gewichtserleichterung. Hier errechnet Uhlenhaut durch die Verwendung von Elektron-Blech (Magnesiumlegierung) anstelle von Duralumin® (hochfeste Aluminiumlegierung) in Verbindung mit der verkleinerten Oberfläche eine Ersparnis von 30 Kilogramm. Weitere 30 Kilogramm soll beim Motor die Verwendung eines Aluminum-Kurbelgehäuses beitragen. Und diverse andere Modifikationen, etwa ein leichteres Getriebegehäuse, leichtere Stoßdämpfer, leichtere Pleuel und Schwungrad, sollen seiner Rechnung nach zu einer gesamten Gewichtsreduzierung von 96 Kilogramm führen. Davon sind 26 Kilogramm abzuziehen, die sich als Mehrgewicht durch das Verlegen des Getriebes an die Hinterachse, die Benzineinspritzung und die Verwendung von 16-Zoll-Rädern ergeben.
Gewicht und Fahrwerk werden verbessert
Große Anstrenungen verwendet Uhlenhaut auf eine verbesserte Haftgrenze der Hinterachse. Die Eigenart der Zweigelenk-Pendelachse, durch das hohe Momentanzentrum bei scharfer enger Kurvenfahrt das innere Rad stark zu entlasten, führt bei einer reduzierten Spurweite durch das noch höhere Momentanzentrum zu einem noch leichteren Abheben und Durchdrehen des inneren Rads. Dies verhindert signifikant bessere Rundenzeiten und macht daher diese Achskonstruktion unbrauchbar, wie Versuche mit dem W 194 und Kompressormotor zeigen. Das Fazit Uhlenhauts: „Ich bin der Ansicht, dass ohne Tieferlegen des Drehpunktes der Pendelachse und ohne die Längsabstützung der Antriebsräder beim 300 SL eine wesentliche Steigerung der Fahrleistung auf kurvenreicher Strecke auch durch sehr viel höhere Motorleistung als bisher nicht möglich ist.“ Um die Hinterachse auch bei leeren Tanks gleichmäßig zu belasten, schlägt er einen reduzierten Radstand vor, von 2400 auf 2300 Millimeter.
Bei den Bremsen schlägt er Versuche mit Scheibenbremsen vor. Ihnen traut er, trotz der 16-Zoll-Räder und damit größeren Trommelbremsen, eine höhere Wärmefestigkeit zu. Bis auf eine Maßnahme, nämlich die Scheibenbremsen, werden alle im Fahrzeug mit der exakten Fahrgestellnummer W 194/010000011/53 umgesetzt. Selbst ein Motor mit Aluminium-Kurbelgehäuse wird zeitweise bereits eingesetzt – wie neuere historische Erkenntnisse ergeben –, so die Versuchsmotoren M 198/81 und 198/82 bei Testfahrten in Hockenheim und auf der Solitude-Rennstrecke in den Jahren 1953 und 1954.
Überhaupt ist der „Hobel“ kein Fall für die heute so beliebten Prototypenjäger. Das Fahrzeug ist offizieller Bestandteil des Versuchsfuhrparks und wird 1953 intensiv auch bei Fahrerschulungen in Hockenheim, Monza und auf der Solitude eingesetzt. Sogar auf das Titelbild der „ADAC Motorwelt“ gelangt es in der Novemberausgabe 1953 und damit zu einem gewissen Bekanntheitsgrad. Sehr deutlich sind die Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung. Vergleicht man die Fahrzeuge W 194/8 (1095 Kilogramm) und W 194/11 (1009,5 Kilogramm), die beide unter gleichen Voraussetzungen mit vollem 150-Liter-Treibstofftank und Motoren mit Graugussblocks ermittelt werden, zeigt sich der Erfolg. Mit einem Motor aus Aluminiumguss statt Stahlguss hätte sich das Gewicht noch einmal um 44 Kilogramm reduzieren lassen, wie damalige Versuche zeigen.
Die Pläne für die modifizierte Karosserie des W 194/11 stammen übrigens vom Karosseriekonstrukteur Walter Gragert, der früher bei der renommierten Karosseriebaufirma Gläser in Dresden gearbeitet hatte.
Die Fahrleistungen des W 194/11 sind den meistens gleichzeitig gefahrenen anderen Wagen der Baureihe W 194 des Jahres 1952 deutlich überlegen. In Monza fährt Juan Manuel Fangio am 30. September und 1. Oktober 1953 mit dem W 194/8 eine Rundenzeit von 2 Minuten und 15 Sekunden; auf dem W 194/11 erreicht er eine Zeit von 2 Minuten und 7,5 Sekunden. Uhlenhaut kommt mit dem W 194/8 auf der Solitude im Oktober 1953 auf eine Bestzeit von 5 Minuten und 11,5 Sekunden, der eine Zeit von 5 Minuten und 3 Sekunden auf dem W 194/11 gegenübersteht.
Doch trotz aller Fortschritte: Der W 194/11 wird nicht gebaut, wie ursprünglich vorgesehen. Vor allem zwei Gründe bedeuten das Ende dieses so aussichtsreichen Prototyps: Die Entscheidungen bei Mercedes-Benz, sich ab 1954 in der Formel 1 zu engagieren und sich ebenfalls von 1954 an bei der Sportwagen-Weltmeisterschaft mit einem aus Formel-1-Rennwagen heraus entwickelten Sportwagen zu beteiligen, mit einem noch größeren Leistungspotenzial als beim W 194/11. Hier ist das Bessere der Feind des Guten – aber das Zwischenmodell hat sich seinen Platz in der Chronik erobert.
Quelle: Daimler AG