Auch wenn ich selbst noch nie einen besessen habe: Der Mercedes SL spielt in meiner automobilen Prägung eine große Rolle. Schon als Junge durfte ich in der „Pagode“ meines Patenonkels mitfahren, die – neu gekauft – jahrzehntelang und über viele hunderttausend Kilometer gefordert wurde. Der 107er eines Freundes, den ich in der Eifel bewegen durfte, begeisterte mit dem bulligen 4,2-Liter-V8 unter der langen Haube. Und Los Angeles sowie den Angeles Crest Highway habe ich im 129er eines anderen Freundes kennengelernt, in einem 600 SL der ersten Serie.
Alle Generationen, die danach kamen, habe ich dann auch auf Fahrpräsentationen erlebt: dort waren übrigens auch einmal der klassische 300 SL Flügeltürer und der entsprechende Roadster zu bewegen. Unvergesslich, damit ganz alleine anderthalb Stunden durch den Südwesten Mallorcas zu fahren! Nur der 190 SL fehlt mir noch, der schöne Vierzylinder, der inzwischen leider geradezu zwanghaft mit dem degoutanten Nitribitt-Histörchen in Verbindung gebracht wird.
In der SL-Geschichte gab es wirklich schon alles: Reine Zweisitzer und Zwei-Plus-Zwei-Modelle; Vier-, Sechs-, Acht- und Zwölfzylinder; luxuriöse Boulevard-Cruiser und echte Rennmaschinen (nur ein Diesel, obwohl angedacht, kam nie). Deshalb war ich gespannt, wie Daimler die neue, jetzt vorgestellte Modellgeneration definieren würde. Dass es überhaupt eine geben würde, war gar nicht so klar. Denn der Cabrio-Markt schrumpft, und die Verkaufszahlen des SL waren zuletzt geradezu eingebrochen.
Vor allem das Design des Vorgängers R 231 konnte nicht überzeugen: Er sieht aus, als hätten drei verschiedene Teams daran gearbeitet, wurde intern gelästert. Das Interieur litt unter dem asymmetrisch verschobenen Ensemble aus Ausströmern und Zentralbildschirm. Und das Klappdach, erst seit dem Facelift 2016 auch während der Fahrt bedienbar, wirkte schon beim Debüt nicht mehr ganz modern. Der Nachfolger, soviel war klar, musste ganz anders werden.
Vielleicht auch deshalb hat Daimler die Entwicklung des neuen SL ausgelagert – und zwar an die Performance-Tochter AMG in Affalterbach. Dort arbeitet man auch an der nächsten GT-Generation, von zahlreichen Gleichteilen mit dem neuen SL darf man ausgehen. Die Aufgabe ist anspruchsvoll, denn es galt nicht nur die SL-Tradition fortzuführen, sondern auch einen Teil der Kundschaft der ausgelaufenen Modelle SLK/SLC und des AMG GT Roadster aufzufangen.
Sportwagen-Gene im SL
Es sind echte Sportwagen-Gene, die im neuen SL stecken, und das manifestiert sich schon im sehr leichten Rohbau mit Aluminium-Rahmen. Torsions- und Quersteifigkeit sind nicht nur besser als beim Vorgänger, sondern toppen auch den GT Roadster. Das ABC-Fahrwerk des 231ers weicht einem Stahlfeder-Fahrwerk mit einer hochinnovativen Raumlenker-Vorderachse, deren fünf Lenker in den Vorderrädern angeordnet sind.
Auch hinten ist eine Raumlenker-Achse verbaut. Und während der AMG SL 55 serienmäßig über Drehstab-Stabilisatoren verfügt, kommt im AMG SL 63 ein Hydrauliksystem mit untereinander verschalteten Dämpfern zum Einsatz. Ein elektronisches Sperrdifferential ist beim 63er Serie, beide Varianten verfügen über eine Allradlenkung mit maximal 2,5 Grad Einschlag an der Hinterachse. Die Stahlbremsanlage kann durch einen Keramik-Bremse ersetzt werden.
Das alles funktioniert auf kurvigen, schnellen Landstraßen hervorragend; wir konnten uns davon bei Testfahrten in Südkalifornien überzeugen. Schon der Vorgänger wirkte leichtfüßig, der neue SL legt aber nochmals deutlich nach und hebt das Fahrverhalten geradezu auf Sportwagen-Niveau. Wie präzise der 232er auf auf Lenkbefehle reagiert, wie locker er sich positionieren lässt und wie direkt er Meldung über den Straßenzustand erstattet, das kann ein Porsche 911 Carrera eigentlich auch nicht besser. Dennoch ist der SL komfortabel genug für entspanntes Cruisen.
Fahrwerk und Antrieb
Dieses hervorragende Fahrwerk geht ein kongeniales Zusammenspiel mit dem aufgeladenen 4,0-Liter-V8 ein. Das bewährte M177-Aggregat leistet im AMG SL 55 476 PS (350 kW), im SL 63 sogar 585 PS (430 kW). Die Leistung wird über einen sehr schnell schaltenden 9-Gang-Automaten mit nasser Anfahrkupplung auf alle vier Räder übertragen, die variable Momentenverteilung sorgt dabei für maximale Agilität und Fahrstabilität.
Der Klangteppich des Achtzylinders sucht seinesgleichen, die Fahrleistungen sind überragend: Der Spurt von 0 auf 100 km/h dauert 3,9 bzw. 3,6 Sekunden, die Fahrwiderstände gelangen erst bei 295 km/h bzw. 315 km/h zum Ausgleich. Vorzeitig abgeregelt wird nicht, und auf eine Hybridisierung haben die Entwickler ebenfalls verzichtet. Vermisst wird sie am Steuer nicht. Übrigens reicht der 55er völlig aus; die Beschleunigung ist schon bei diesem Modell überaus gut, der Unterschied zum 63er nur selten herauszufahren.
Hybride kommen später
Natürlich wird es noch Hybride geben; wer weiß, was sich irgendwelche Bürgermeister an Einfahrbeschränkungen noch einfallen lassen. Sowohl der 4,0-V8 als auch ein kommender Vierzylinder (vgl. C63) dürften als Plug-In-Hybrid kommen, die dann an der Steckdose Kohle- und Fracking-Strom für vielleicht 20 Kilometer Reichweite ziehen können. Es ist auch ein Einstiegsmodell mit vier Zylindern, Heckantrieb und Mild-Hybridisierung denkbar. Die Sechszylinder verschwinden sicher, und einen V12 wird es auch nicht mehr geben.
Das Design des neuen SL ist Geschmackssache, in den Foren haben die Fans ausführlich darüber diskutiert. Ich finde ihn unglaublich schön, perfekt proportioniert, und würde ihn mit silbernen Felgen bestellen, um etwas Brutalität herauszunehmen. Das Stoffdach ist nicht nur genauso komfortabel und leise wie das früher verwendete Klappdach, es ist auch kompakter und der Ästhetik sowohl in offenem als auch in geschlossenem Zustand ausgesprochen zuträglich.
2+2 Sitzer
Dank Stoffdach kann der SL auch wieder zum 2+2-Sitzer werden; hinten sitzen Kinder und Jugendliche einigermaßen bequem, bei geöffnetem Dach funktioniert es auch für Erwachsene. Trotzdem wäre es schön, wenn es alternativ zu den auffälligen Rücksitzen eine rein zweisitzige Variante mit einer optisch diskreten, teppich- oder lederbezogenen Gepäckmulde gäbe.
Vorne sitzt man ohnehin perfekt, die Sitze passen wie angegossen, vor dem Fahrer erstreckt sich ein Cockpit ausgesprochen futuristischer Machart. Mercedes-AMG nennt die Bildschirmdarstellung analoger Instrumente „hyperanalog“, die Mittelkonsole lässt sich in der Neigung elektrisch verstellen. Was wir für ein Gimmick hielten, hat sich beim Offenfahren bewährt, weil sich jegliche Blendung durch Anpassung des Winkels abschalten lässt.
Infotainment mit Schwächen
Infotainment- und Assistenzsysteme bieten Performance auf hohem Niveau, die Bedienführung ist weitgehend logisch. Schön wäre es, wenn das Auto eine abgelehnte Paarungs-Anfrage ans Telefon akzeptieren würde, anstatt endlosen Neuanfragen zu starten. Und der eine oder andere Besitzer dieses Oberklasse-Roadsters würde es sicher begrüßen, von seinem Auto nicht geduzt zu werden.
Doch das sind Kleinigkeiten. Insgesamt präsentiert sich der neue SL als überragender Sportwagen, als absolut überzeugende Neuinterpretation des mittlerweile 70 Jahre alten SL-Themas. Der 232er ist mit Sicherheit der beste und sportlichste SL, vielleicht auch einer der schönsten. Und für mich persönlich ein weiterer Höhepunkt in der Abfolge automobiler eindrucksvoller Erlebnisse und Prägungen.
Bilder: Mercedes-Benz AG sowie Jens Meiners