Die Aerodynamik gewinnt, ausgehend von den Erfahrungen im Flugzeugbau, zu Beginn der 1920er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Welt der Technik stark an Bedeutung – auch im Automobilbau: In den nachfolgenden zwei Jahrzehnten erregen zahlreiche im Luftwiderstand optimierte Versuchs- und Rennfahrzeuge in der Öffentlichkeit großes Aufsehen.
Ein Paukenschlag ist der „Tropfenwagen“ von Edmund Rumpler, der im September 1921 auf der ersten deutschen Automobilausstellung nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin debütiert. Er ist die Initialzündung für die Entwicklung weiterer aerodynamisch optimierter Fahrzeuge. Diese werden beispielsweise von so renommierten Forschern und Ingenieuren wie August Everling, Wunibald Kamm, Reinhard Freiherr von Koenig-Fachsenfeld, Paul Jaray und Karl Schlör gebaut. Die Entstehung des Windkanals im Werk Untertürkheim von Mercedes-Benz ist eng mit dieser Entwicklung verbunden. Zurück geht sie auf die Tätigkeit von Wunibald Kamm an der Technischen Hochschule (TH) Stuttgart.
Der promovierte Ingenieur Dr.-Ing. Wunibald Kamm arbeitet von 1922 bis 1925 in der Fahrzeugentwicklung der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG). Nach Zwischenstufen bei den Schwäbischen Hüttenwerken (SHW) in Aalen und der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof wird er Professor am Lehrstuhl der Technischen Hochschule Stuttgart und gründet am 15. Juli 1930 das „Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Flugmotoren an der Technischen Hochschule Stuttgart“ (FKFS), und zwar als gemeinnützige Stiftung an der TH, an der das Land Württemberg mit dem Württembergischen Kultusministerium und Wirtschaftsministerium, die Stadt Stuttgart, der Verband Württembergischer Metallindustrieller, der Reichsverband der Automobilindustrie sowie folgend das Reichsverkehrs- und das Reichsluftfahrtministerium (RLM) beteiligt sind.
In der Folgezeit ergeben sich Änderungen in Bezeichnung und Satzung: Hinter der Abkürzung FKFS verbirgt sich jetzt das „Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart“. Der Begriff Flugzeugmotoren ist durch Fahrzeugmotoren ersetzt. Das Institut ist heute eine unabhängige Stiftung öffentlichen Rechts in Stuttgart und mit der Universität Stuttgart über Verträge verbunden; sie erhält keine Grundfinanzierung der öffentlichen Hand.
Beginn im Jahr 1934 zunächst mit einem kleinen Windkanal
Das Institutsgelände befindet sich bei seiner Gründung im Jahr 1930 aus Bad Cannstatt kommend vor dem Werk Untertürkheim der damaligen Daimler-Benz AG. Werk und Institut sind damals durch einen Bahndamm getrennt, der heute nicht mehr existiert. Im Geschäftsjahr 1934 wird ein kleiner Windkanal mit einem Düsendurchmesser von 70 Zentimetern für Untersuchungen an Fahrzeugmodellen installiert. Zusätzlich werden ab 1935 Luftwiderstandsuntersuchungen im kleinen Windkanal und durch Auslaufversuche mit Fahrzeugen in natürlicher Größe durchgeführt. Im darauf folgenden Jahr wird für Luftwiderstandsmessungen an Fahrzeugmodellen ein Wasserströmungskanal erstellt.
Zwischen 1939 und 1943 entsteht ein Windkanal für Fahrzeuge in voller Größe. Kamm hat erkannt, dass mit den Modellwindkanälen die umfangreiche Vielfalt der Fahrzeugaerodynamik nicht erfasst werden kann und man deshalb auf Forschungseinrichtungen für Fahrzeuge in Originalgröße nicht verzichten kann. Der von Kamm konzipierte Windkanal ist eine Anlage nach „Göttinger Bauart“ mit horizontaler Luftführung, geschlossener und einer zu Dreiviertel offenen Messstrecke sowie einer Länge der Kanalachse von 125 Metern. Der Düsenquerschnitt beträgt 32,6 Quadratmeter, die Messstreckenlänge 10 Meter.
Obwohl das Institut in den Jahren 1944 und 1945 durch Bombardements auf das Werk Untertürkheim stark zerstört wird, bleibt der Windkanal deutlich beschädigt erhalten. Unmittelbar nach der Befreiung durch die Franzosen rettet der neue Institutsleiter Prof. Dr.-Ing. Paul Riekert den eigentlich zur Demontage vorgesehenen Windkanal, indem er ihn mit Fahrzeugen und Geräten so vollstellt, dass er ihn den Besatzungsbehörden als Lagerhalle des Instituts vorstellen kann.
Bereits 1950 steht das Versuchsfeld der Technischen Hochschule im Fokus der Überlegungen von Dr. Wilhelm Haspel, Generaldirektor der damaligen Daimler-Benz AG. Während einer Vorstandssitzung am 10. Mai 1950 äußert er die Meinung, dass für eventuelle Grundstückskäufe vorzugsweise das Versuchsfeld der Technischen Hochschule in Betracht gezogen werden solle, weil dort bereits Prüfstände und der Windkanal vorhanden wären.
Gelände und Windkanal kommen zu Daimler-Benz
1954 erwirbt das Unternehmen von der Stadt Stuttgart Grundstücke jenseits des Bahndamms, auf dem sich heute der Nutzfahrzeugversuch von Mercedes-Benz befindet, aber auch der Windkanal des FKFS steht. Zur gleichen Zeit ist auch das FKFS nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in der Lage, den Windkanal in Betrieb zu nehmen. Zunehmend werden ab 1960 die Kapazitäten dort stärker als zuvor von der Fahrzeugentwicklung bei Mercedes-Benz in Anspruch genommen, steigend bis 1970 auf 40 Prozent der Windkanalkapazität.
1970 erfolgt dann die Übernahme des Windkanals durch die Daimler-Benz AG. Die Verwaltungshoheit verbleibt bis 1974 noch beim FKFS. Danach leitet das Unternehmen einen 8 Millionen DM teuren Umbau und die Modernisierung der gesamten Anlage ein, was fast zwei Jahre in Anspruch nimmt. Im April 1976 nimmt der Entwicklungsbereich von Mercedes-Benz den Betrieb der Anlage mit vierfach erhöhter Kapazität auf.
Zur Kapazitätssteigerung werden eine Windkanalwaage, eine Vielstellen-Druckanlage sowie ein Leistungs-Rollenprüfstand installiert. Die in einer drehbaren Bodenplatte eingebaute Windkanalwaage ersetzt die bis dahin verwendete Hängewaage, bei der das Fahrzeug in einem H-förmigen Rahmen an vier Stahlseilen aufgehängt und die vier Stahlseile an den Auftriebswaagen in der Drehbühne aufgehängt wurde. Bei der jetzt eingebauten Unterflurwaage steht das Fahrzeug auf vier Aufstandsplatten, die im Boden der drehbaren Messplatte höhengleich eingebaut sind. Die Aufstandsplatten stehen auf vier einzelnen Auftriebswaagen, mit denen die Auftriebskräfte gemessen werden. Durch die drehbare Messplatte können die Einflüsse von Seitenwind simuliert und gemessen werden.
Mitte der 1980er-Jahre wird im Hinblick auf beschleunigte Verfahren und präzisere Werte der Windkanal erneut modernisiert. So wird beispielsweise eine Traversieranlage eingebaut, die exakte und schnelle Konturvermessung, Strömungsvermessung und Stirnflächenvermessung ermöglicht. Bei der Konturvermessung, die bis dahin mithilfe von Schablonen, Fotos und Vermessung mit Maßstäben erfolgte, wird die Kontur nun zwecks höherer Genauigkeit durch einen sogenannten Optocator (ein optoelektronischer Diodenlichtlaser-Anzeiger) in Koordinaten erfasst. Die Strömungsvermessung erfolgt anstelle manuell positionierter Sonden jetzt mit Sonden, die automatisch ein Messpunktgitter abfahren. Wurde die Vermessung der Fahrzeugstirnfläche früher durch ein Laserverfahren mit einem Zeitaufwand von vier Stunden durchgeführt, ist jetzt mit Kantentracking lediglich ein Zeitaufwand von einer halben bis einer Stunde erforderlich. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, nun auch Nutzfahrzeuge in voller Größe zu messen.
Neben Aerodynamikuntersuchungen lässt sich der Windkanal für weitere Arbeiten nutzen, beispielsweise Verschmutzungsmessungen und Messungen der Wischgenauigkeit von Scheibenwischern im Hochgeschwindigkeitsbereich, Temperaturmessungen an Kühler und Bremsen sowie Untersuchungen über die Fahrgastraumbelüftung.
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Windkanalwaage
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Vielstellen-Druckanlage
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Leistungs-Rollenprüfstand
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Traversieranlage
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Datenerfassungsanlage
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Länge der Messstrecke: 10 Meter
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Länge der Kanalachse: 125 Meter
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Düsenquerschnitt: 32,6 Quadratmeter
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Maximaler Strömungsquerschnitt: 120 Quadratmeter
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Maximale Blasgeschwindigkeit: 250 km/h
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Maximale Antriebsleistung: 5.000 kW
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Gebläsedurchmesser: 8,5 Meter
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Drehscheibendurchmesser: 12 Meter
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Schwenkbereich der Drehscheibe: 180 Grad
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Maximale Achslast: 10 Tonnen
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Kontraktionsverhältnis Vorkammer/Düse: 3,6
Quelle: Daimler AG