1886 kommen unabhängig voneinander zwei epochale Erfindungen auf die Straße: in Mannheim der Benz Patent-Motorwagen, ein schon recht komplett durchkonstruiertes Gefährt, und in Stuttgart die Daimler-Motorkutsche, die, wie der Name sagt, eine von einem Motor getriebene Kutsche. Beiden Fahrzeugen fehlt jedoch ein ganz entscheidendes Detail: Eine zum Motorfahrzeug passende, den Gegebenheiten und Geschwindigkeiten gewachsene Lenkung.
Carl Benz hat sich mit deren Konstruktion erst gar nicht aufgehalten, sondern zunächst ein Dreirad auf die Räder gestellt. Und Gottlieb Daimler wollte vorrangig beweisen, dass sein kleiner, schnelllaufender Benzinmotor sehr wohl zum Antrieb von Fahrzeugen taugt – daher die Kutsche. Mehr sollte und konnte es im ersten Ansatz nicht sein.
Eine Kutsch- oder Wagenlenkung ist zu dieser Zeit, wenn auch über Jahrhunderte verfeinert, immer noch eine Drehschemel-Lenkung, bei der die komplette Vorderachse samt Rädern um einen Drehzapfen schwenkt, bei eleganten oder wendigeren Ausführungen unter dem Wagenkörper hindurch und daher meist mit kleineren Rädern bestückt als die Hinterachse. So verharren die automobilen Motorfahrzeuge der ersten Jahre in dieser Beziehung weitgehend auf dem technischen Stand der Kutsche.
Den beiden Erfindern des Automobils ist zunächst nicht bekannt, dass schon 1816 der Kutschen- und Wagenbauer Georg Lankensperger aus München ein „Privileg“ – so heißen seinerzeit Patente – auf eine „Lenkvorrichtung für Pferdewagen“ erhalten hatte. Vom Prinzip her stellt diese Konstruktion die Lösung des Problems dar und wird 1873 von Amédée Bollée für seinen Dampfwagen erneut patentiert, gerät dann aber aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen in Vergessenheit.
Die Neu-Erfindung der Achsschenkel-Lenkung
Per Zufall stößt Carl Benz beim Studium einer technischen Fachzeitschrift im Jahre 1891 auf dieses „ Privileg“ und erkennt die Bedeutung des Funktionsprinzips für das Automobil, bei dem „die Verlängerung der Radachsen im Kurvenmittelpunkt zusammenlaufen müssen“. Kurz, er erkennt in der Achsschenkel-Lenkung die Lösung des automobilen Lenkungsproblems.
In penibler Kleinarbeit entwickelt er eine für diesen Zweck brauchbare Konstruktion – sie muss ja von einer Lenkkurbel und nicht von einer Deichsel bewegt werden – und baut sie in seinen Patent-Motorwagen ein. Etliche Verbesserungen folgen, bis sie sowohl leichtgängig als auch zuverlässig fahrfähig und damit auch patentfähig ist.
Das Patent DRP 73515
Seine „Wagen-Lenkvorrichtung mit tangential zu den Rädern zu stellenden Lenkkreisen“ meldet Carl Benz am 28. Februar 1893 zum Patent an. Diesem Patent Nr. DRP 73515 kommt schlagartig weltweite Bedeutung zu, und es führt verständlicherweise zu zahlreichen Neukonstruktionen und auch Umbauten bereits bestehender Fahrzeuge.
Verbürgt ist, dass sich der arrivierte Marine-Maler Eugen von Zardetti in Bregenz seinen ursprünglich dreirädrigen Benz Patent-Motorwagen, Baujahr 1893 – das erste Automobil in Österreich überhaupt – 1898 in einen Vierradwagen umbauen lässt. Die Familie Zardetti schenkt diesen bemerkenswerten Wagen 1926 dem Technischen Museum in Wien, wo er noch heute zu den wertvollsten Ausstellungsstücken zählt.
Patent-Motorwagen Benz „Victoria”
Der erste vierrädrige Wagen, den Benz mit dieser epochal neuen Lenkung Käufern und Publikum vorstellt, ist der Patent-Motorwagen „Victoria“. Gebaut wird er in verschiedenen Ausführungen und mit 3 bis 6 PS Motorleistung von 1893 bis 1900. Das Modell „Victoria“ ist zeitlebens der Lieblingswagen von Carl Benz.
Die Legende sagt dem Wagen gerne nach, dass Benz diesen Namen wählt, um an seinen „Sieg“ über das Lenkungsproblem zu erinnern. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er einfach die etablierte Gattungsbezeichnung für eine zweisitzige Kutschenform verwendet. Aus dem Wagen- und Kutschenbau werden in der Anfangszeit des Automobils auch andere Bezeichnungen, wie z.B. „ Coupé“, „Landauer“, „Duc“ und „Break“, übernommen.
Mit einem der ersten Exemplare, der Fabriknummer 76, unternimmt der böhmisch-österreichische Baron Theodor von Liebieg im Jahre 1894 die erste große Fernreise der Automobilgeschichte. Sie führt den damals 22jährigen von Reichenberg in Böhmen über Mannheim nach Gondorf an der Mosel, von wo aus er verschiedene Ausfahrten unternimmt, unter anderem auch nach Reims in Frankreich. Die Rückfahrt von Gondorf führt ihn wieder über Mannheim nach Reichenberg zurück. Insgesamt bewältigt er in jenem Sommer 2500 Kilometer. Die Höchstgeschwindigkeit des 4-PS-Wagens beträgt rund 20 Stundenkilometer, der Treibstoffverbrauch liegt bei rund 21 Liter auf 100 Kilometer. Bemerkenswert ist auch der Wasserverbrauch des offenen Kühlsystems, der bei 150 Liter je 100 Kilometer liegt. Das Modell Victoria des Barons von Liebieg steht heute im Technischen Nationalmuseum in Prag.
Quelle/Bilder: Daimler AG