Eigentlich sieht Dirk Stranz die Sache mit den Lkw ganz nüchtern. „Wir bauen die Fahrzeuge, damit sie Güter transportieren – und das müssen sie sicher und effizient können“, sagt der Versuchsingenieur von Mercedes-Benz Trucks, während er von seinem Büro im Entwicklungs- und Versuchszentrum (EVZ) in Wörth die Treppe hinunter ins Foyer läuft. „Die Actros Edition 1 im ‚Truck Of The Year‘-Design ist allerdings ein Truck, der heraussticht.“ Dirk Stranz und seine Kollegen waren beteiligt an dem Ergebnis, das auf vier Rädern vor ihm steht: Viele Innovationen, die den Mercedes-Benz Actros heute auszeichnen, wurden vom Versuchsingenieur vor der Markteinführung getestet.
Stranz ist nun in der Eingangshalle des EVZ in unmittelbarer Nähe des Mercedes-Benz Werks in Wörth. Das Zentrum ist innerhalb von anderthalb Jahren erweitert worden. Insgesamt 70 Millionen Euro sind in den Standort geflossen.
„Ein Lkw, der Fahrer begeistert“
Spricht Stranz von seiner Arbeit, gerät er schnell ins Schwärmen: „Das ist ein toller Job, den wir hier machen.“ Vor ihm parkt jenes Spitzenmodell, dessen Baureihe die Logistikbranche revolutioniert hat und von Fachjournalisten aus 24 europäischen Ländern zum International Truck Of The Year 2020 gewählt wurde. Den Mercedes-Benz Actros hier im Foyer kennt Dirk Stranz besonders gut. Mit einem Kollegen fuhr er das silbergraue Flaggschiff zur Preisverleihung nach Lyon. „Das ist einfach ein Lkw, der Fahrer begeistert.“ Mit dem linken Zeigefinger tippt er auf den Schriftzug „Truck Of The Year 2020“, der auf dem Kühlergrill des Actros 1863 Edition 1 prangt. Sein Lächeln verrät, dass er selbst großer Fan des Lkw ist. Nur 400 Exemplare der Edition 1 sind in Wörth vom Band gelaufen. „Wenn mir eines von ihnen auf der Autobahn begegnet, erkenne ich es sofort. Die Fernscheinwerfer in der Sonnenblende oder die Edelstahlzierleisten – auch wenn das nur Kleinigkeiten sind: Mir entgeht kein Exemplar.“
Im Fahrzeuginneren hebt sich der Truck deutlich von anderen Lkw ab. Lieblingsmerkmale bei der Edition 1? Stranz, der nun auf dem Fahrersitz Platz genommen hat, lächelt und streicht über das mit Leder bezogene Armaturenbrett. „Das hat doch was von S-Klasse“, sagt er. „Aber eines ist uns bei der Entwicklung und der Ausstattung des Lkw ganz klar gewesen: Die Edition 1 ist nicht nur ein Hingucker, sondern muss in erster Linie in der Praxis ihren Dienst erfüllen.“
Stranz kennt mehrere Speditionen, die das Sondermodell mit der Topmotorisierung im Fuhrpark haben. „Dort übernehmen die Trucks teilweise Spezialaufgaben. Wenn es etwa täglich auf der A7 über die Kasseler Berge geht und der Lkw voll beladen ist, kann man die 460 kW durchaus gut brauchen. Die Edition 1 Trucks müssen Geld verdienen, so wie andere auch.“ Stranz weiß, dass die Sondermodelle oft lange Zeit in einem Unternehmen bleiben. „Ich kenne Firmen, die die Editions-Modelle sogar sammeln.“ Davon abgesehen begeistert der Truck die Fahrer nicht nur, sondern macht sie auch stolz. „Das Fahrzeug ist eine Visitenkarte des Unternehmens. Und wenn ein Fuhrparkleiter einen Fahrer auf diesen Truck setzt, ist das für ihn ein Zeichen der Anerkennung und des Vertrauens.“
MirrorCam: eine von mehr als 60 Innovationen im Actros
Dirk Stranz war seinerzeit nicht überrascht, dass der Actros zum International Truck Of The Year gewählt wurde. „Wir waren uns sicher, dass der Lkw überzeugen würde, aber ob es zum Sieg reicht, da kann man sich nie sicher sein. Letztendlich haben die mehr als 60 Innovationen, die es im neuen Actros gibt, die Jury überzeugt.“ Zu diesen Innovationen gehören unter anderem der Active Drive Assist, der Active Brake Assist 5, das Multimedia-Cockpit, das überarbeitete Predictive Powertrain Control und als auffälligstes Merkmal die MirrorCam. Diese wird für zahlreiche Märkte serienmäßig verbaut und bringt weitere Vorteile: Wegfall der Spiegelgehäuse im Sichtbereich, dafür ein Bild, das bei engen Kurvenfahrten dem Aufliegerende folgt. Als Versuchsingenieur war Stranz speziell an der Entwicklung dieser Technologie beteiligt. „So etwas gab es vorher noch nicht. Die Entwicklung war entsprechend anspruchsvoll.“
Seit 2012 hat der Versuchsingenieur die Prototypen des Systems immer wieder auf Herz und Nieren geprüft. Außer im Entwicklungs- und Versuchszentrum in Wörth war er dafür unter anderem auf vielen Autobahnen Europas, im Großstadtverkehr, in Spanien, am Polarkreis, bei verschiedenen Lichtverhältnissen und im Regen unterwegs. Zwischendurch ist er unzählige Male mit Branchenfernen durch das nahe gelegene Karlsruhe gefahren, um ihre Reaktionen auf das System zu beobachten. „Man testet bei allen möglichen Randbedingungen. Einmal mussten wir wochenlang auf den richtigen Nebel warten. Da ist schon viel Herzblut reingeflossen.“ Und spätestens jetzt wird klar, dass das Thema Lkw-Entwicklung für Dirk Stranz mehr als nur ein Job ist.
Zur Person
Dirk Stranz (40) begann nach einem Maschinenbaustudium in Karlsruhe 2005 bei der Daimler AG in der Fertigungsplanung im Mercedes-Benz Werk in Wörth, wo er zuvor bereits sein Praxissemester absolvierte, als Werkstudent arbeitete und seine Diplomarbeit schrieb. Seit 2009 ist er Ingenieur in der Nutzfahrzeugerprobung. Seine Leidenschaft für Lkw entwickelte sich schon in der Kindheit: „Mein Vater war Kunstlehrer und musste mir viele Bilder von Lkw zeichnen. Als ich dann das erste Mal das Rasseln eines Lkw-Motors hörte, war es endgültig um mich geschehen.“ Der gebürtige Karlsbader lebt heute in der Südpfalz.