Ein neu entwickelter, 27 kw starker Leichtmetallmotor treibt den Mercedes-Benz 35 PS an, dessen Kühlung der von Maybach entwickelte Bienenwabenkühler übernimmt. Der 1000 kg leichte Wagen mit tief liegenden Schwerpunkt ist der erste, den den Produktnamen „Mercedes“ trägt und dessen Zutaten das Fahrzeug zum ersten Supersportwagen der Markengeschichte machte.
Die Höchstgeschwindigkeit des Mercedes 35 PS beträgt 75 km/h, mit einer leichten Sportkarosserie sogar knapp 90 km/h – das sind zu dieser Zeit im Jahre 1900 absolute Spitzenwerte. Und prompt dominiert das deutsche Hochleistungs-Automobil im März 1901 die Rennwoche von Nizza: Der Mercedes 35 PS der DMG siegt bei Bergrennen, Straßenrennen und beim Sprint über die Meile.
So begründet Wilhelm Maybachs Entwurf die Kultur der Supersportwagen von Mercedes-Benz. Denn der erfolgreiche Rennwagen ist kein reines Wettbewerbsfahrzeug, sondern wird als exklusives Automobil an sportlich ambitionierte Kunden verkauft. Das steht auch für Emil Jellinek außer Frage, als er die DMG zur Konstruktion dieses überragenden Fahrzeugs anregt: Seit 1897 vertreibt Jellinek als selbständiger Händler in Nizza an der französischen Côte d’Azur Daimler-Automobile an Kunden aus exklusiven Kreisen. So kaufen die Rothschild-Familie und weitere bekannte Persönlichkeiten Wagen bei ihm. Bis zum Tode Gottlieb Daimlers im Jahr 1900 setzt Jellinek auf diese Weise immerhin 34 Autos ab – eine respektable Zahl in einer Epoche kleinster Bauzahlen.
Jellinek überzeugt schließlich Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach, einen leistungsstarken Wagen zu bauen. Das neue Fahrzeug der DMG soll unter dem Markennamen „Mercedes“ in Nizza starten. Denn so lautet das Pseudonym Jellineks, unter dem er sich und sein Rennteam seit 1899 bei Wettfahrten registriert. Schon damals erkennt der Händler, dass leistungsstarke Sportwagen nicht nur ein mächtiges Werbewerkzeug für den Hersteller sind, sondern auch die Technik der Zukunft in der Großserie vorwegnehmen können: „Ich will das Auto von übermorgen!“, fordert er von den DMG-Ingenieuren. Gleichzeitig bestellt er 36 Wagen zum Gesamtpreis von 550 000 Mark.
Der erste neue Wagen vom Typ 35 PS wird am 22. Dezember 1900 an Jellinek geliefert. Schon am 4. Januar 1901 veröffentlicht die „L’Automobile-Revue du Littoral“ einen Beitrag, in dem es heißt: „Neues zu sehen gibt es derzeit nicht in Paris, sondern in Nizza. Der erste in den Werkstätten von Cannstatt gebaute Mercedes-Wagen ist nämlich in Nizza angekommen und dank dem Entgegenkommen seines Besitzers, Herrn Jellinek, konnten ihn alle Fahrer begutachten. Wir halten mit unserer Meinung nicht zurück: Der Mercedes-Wagen ist sehr, sehr interessant. Dieses bemerkenswerte Fahrzeug wird bei den Rennen im Jahre 1901 ein gefürchteter Konkurrent sein.“
Das bewahrheitet sich auf der Rennwoche in Nizza im März 1901: Vier erste und fünf zweite Plätze fahren die neuen Mercedes-Wagen nach Hause, und das in so unterschiedlichen Disziplinen wie Distanzfahrt, Bergrennen und Meilenrennen. Paul Meyan, Generalsekretär des Automobilclubs von Frankreich, prägt nach dieser Erfahrung den Satz: „Nous sommes entrés dans l’ère Mercédès“ („Wir sind in die Ära Mercedes eingetreten“).
Und Maybachs Rechnung, dass sich schnell Käufer für die exklusiven Hochleistungssportwagen finden, geht auf: 1901 kaufen unter anderem die amerikanischen Milliardäre Rockefeller, Astor, Morgan und Taylor die leistungsstarken Mercedes-Wagen der DMG.
Der Mercedes 35 PS steht am Anfang einer Entwicklung, die auch in den folgenden Jahren viele leistungsstarke und exklusive Automobile hervorbringt. Dazu zählen insbesondere die Typen der Simplex-Familie. Sie sind das Ergebnis der gezielten Arbeit von Wilhelm Maybach an einem nochmals verbesserten Nachfolger der ersten Mercedes-Modellgeneration. Bereits im Herbst 1901 beginnt Maybach das Projekt, das dabei entstehende Spitzenmodell des Jahres 1902 ist der Mercedes-Simplex 40 PS. Er dominiert die Woche von Nizza im April 1902 ebenso wie ein Jahr zuvor der erste Mercedes.
Die nächste Entwicklungsstufe des siegreichen Supersportwagens ist der Mercedes-Simplex 60 PS von 1903. Er erlebt seine Sternstunde als Rennwagen, allerdings erst infolge einer Katastrophe: 1903 fällt die Daimler-Fabrik in Cannstatt weitgehend einem Brand zum Opfer. Dabei werden auch die drei Mercedes 90 PS zerstört, die für das Gordon-Bennett-Rennen vorgesehen sind. Deshalb lässt die Daimler-Motoren-Gesellschaft statt der Werksrennwagen Fahrzeuge vom Typ Mercedes-Simplex 60 PS an den Start gehen, die bereits an Kunden ausgeliefert wurden und vom Hersteller für das Rennen ausgeliehen werden. Einen dieser Wagen steuert der belgische Rennfahrer Camille Jenatzy gegen stärkste internationale Konkurrenz zum Sieg. Der Mercedes-Simplex 60 PS steht somit für einen der legendärsten Motorsporterfolge der Marke Mercedes.
Zu den Spitzenmodelle der DMG, die als Vorläufer und Wegbereiter moderner Supersportwagen anzusehen sind, gehören auch der Mercedes 75 PS mit Sechszylindermotor (1906), der Mercedes 37/90 PS mit Dreiventiltechnik, Doppelzündung und gekapselten Antriebsketten (1911) sowie der Mercedes 28/95 PS mit einem von der Flugzeugtechnik inspirierten Sechszylindermotor mit obenliegender Nockenwelle, V-förmig hängenden Ventilen und aus Stahl gedrehten Zylindern (1914).
Benz & Cie., bis zur Fusion beider Unternehmen im Jahr 1926 ein Mitbewerber der DMG, trägt im Jahr 1909 mit einem ganz berühmten Fahrzeug zumindest eine kleine Facette zur Geschichte der Supersportwagen bei: mit dem Benz 200 PS, der unter dem Namen „Blitzen-Benz“ zahlreiche Rekorde fährt und als schnellstes Auto seiner Zeit in die Technikgeschichte eingeht. Er hat einen 21,5-Liter-Motor mit einer Leistung von 147 kW und gehört in die Riege der Supersportwagen: Denn im Unterschied zu Experimentier- und Rekordfahrzeugen späterer Jahre wird der Benz 200 PS sowohl an Kunden verkauft wie auch bei Motorsportveranstaltungen eingesetzt.
Mercedes 35 PS
Produktionszeit: 1900 bis 1902
Motor: 4 Zylinder, Reihenanordnung
Hubraum: 5913 Kubikzentimeter
Leistung: 26 kW bei 1000/min
Höchstgeschwindigkeit: 75 km/h
Mercedes-Simplex 40 PS
Produktionszeit: 1902 bis 1903
Motor: 4 Zylinder, Reihenanordnung
Hubraum: 6785 Kubikzentimeter
Leistung: 29 kW bei 1100/min
Höchstgeschwindigkeit: 80 km/h
Mercedes 75 PS
Produktionszeit: 1906 bis 1911 (inklusive Nachfolgetypen)
Motor: 6 Zylinder, Reihenanordnung
Hubraum: 10 180 Kubikzentimeter
Leistung: 55 kW bei 1300/min
Höchstgeschwindigkeit: 95 km/h
Mercedes 37/90 PS
Produktionszeit: 1911 bis 1915 (inklusive Nachfolgetypen)
Motor: 4 Zylinder, Reihenanordnung
Hubraum: 9530 Kubikzentimeter
Leistung: 66 kW bei 1300/min
Höchstgeschwindigkeit: 115 km/h
Mercedes 28/95 PS
Produktionszeit: 1914 bis 1924 (alle Typen)
Motor: 6 Zylinder, Reihenanordnung
Hubraum: 7280 Kubikzentimeter
Leistung: 69 kW bei 1800/min
Höchstgeschwindigkeit: 130 km/h
Quelle: Daimler AG