Im Frühjahr 1908 beginnt die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) mit der Markteinführung des neuen Typ 35 PS – Daimlers erstem Automobil mit Kardanantrieb. Diese Kraftübertragung vom Getriebe zur Antriebsachse über eine Welle mit Kreuzgelenken ist die wichtigste Innovation des neuen Mercedes-Modells. Den Motor dagegen übernimmt das neue Automobil nahezu unverändert vom seitherigen Typ 35 PS mit Kettenantrieb: Das Aggregat besteht aus zwei in Reihe angeordneten Zylinderpaaren, hat seitliche Nockenwellen und stehende Ventile.
Der als „Cardan-Wagen“ beworbene Typ 35 leitet 1908 bei der DMG die allmähliche Ablösung der Kraftübertragung zwischen Motor und Achse mittels Ketten ein. Dieser Antrieb bleibt allerdings noch mehrere Jahre parallel zur Kardantechnik im Programm der Stuttgarter. Insbesondere schwere und leistungsstarke Automobile erhalten weiterhin den als besonders komfortabel geltenden Kettenantrieb.
Vom Riemenantrieb zur Kardanwelle
Der Kardanantrieb, heute Standard in der Kraftfahrzeugtechnik, ist in der Frühzeit des Automobils eine von drei Antriebsarten neben Riemen- und Kettenantrieb. Im Daimler Motorwagen von 1886 teilen sich noch ein Flachriemen (vom Motor zur Vorgelegewelle) und Ketten (weiter zu den Zahnkränzen an der Hinterachse) die Kraftübertragung. Der Motor des Stahlradwagens von 1889 wirkt sogar direkt auf die Hinterräder. 1895 debütiert schließlich der Daimler Riemenwagen. In diesem von Wilhelm Maybach entwickelten Fahrzeug überträgt ein Riemengetriebe die Kraft des im Heck angeordneten Phönix-Motors auf die Hinterräder.
Der Daimler Phönix aus dem Jahr 1897 ist dann das erste von Maybach und Daimler entwickelte Automobil mit Kettenantrieb. Denn die DMG bietet zwar bereits den Schroedter-Wagen von 1892 mit Kettenantrieb an. Doch dieses Auto entsteht in jener Zeit, als Maybach und Daimler im Hotel Hermann unabhängig von der DMG arbeiten. Der Kettenantrieb wird in den folgenden Jahren bei der DMG zum Standard der Kraftübertragung vom Getriebe auf die Achse.
Robuster Leichtbau mit geringem Komfort
Die zögerliche Übernahme des Kardanantriebs als Nachfolger der Kette ist in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts durch mechanische Probleme begründet. Zwar überzeugt die Kraftübertragung mittels einer Achse, die an einem oder zwei Enden kardanische Kreuzgelenke trägt, durch Robustheit, geringes Gewicht und weitgehende Wartungsfreiheit. Doch die im Vergleich zur Kette deutlich steifere Verbindung zwischen Achse und Motor sorgt für starke Vibrationen, die den Komfort für die Fahrgäste schmälern.
Die Vorteile der neuen Technik überwiegen aber letztlich, und deshalb konstruieren zahlreiche Hersteller um die Jahrhundertwende erstmals Automobile mit Kardanantrieb. Dabei ist auch Benz & Cie. der DMG fünf Jahre voraus: Bereits 1903 kommt der Benz Parsifal als erstes Automobil der Marke mit Kardanantrieb auf den Markt. Neben den Zweizylindermodellen mit 8, 10 und 12 PS (5,9, 7,4 und 8,8 kW) und Kardanantrieb ist auch ein 16-PS-Vierzylindermodell (11,8 kW) im Programm, das einen Kettenantrieb hat. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Kardantechnik sorgt für eine zunehmende Akzeptanz dieser Form der Kraftübertragung.
Entwicklung des Mercedes Cardan-Wagens
Nach dem 1908 erfolgten Debüt des Mercedes 35 PS Cardan-Wagens erhält das Fahrzeug im Jahr 1909 die neue Typenbezeichnung 21/35 PS. Dabei beschreibt die erste Zahl die Steuer-PS und die zweite Zahl die effektive Leistung aus 5,3 Liter Hubraum. Im Folgejahr entsteht durch Vergrößerung des Hubs das Nachfolgemodell 22/40 PS mit 5,6 Liter Hubraum. Zum Jahr 1913 steigt der Hubraum noch einmal, auf nun 5,7 Liter. Der Wagen, der jetzt Typ 22/50 PS heißt, leistet 50 PS (37 kW) aus seinem Reihenvierzylindermotor mit paarweise angeordneten Zylindern. Während der Kardanantrieb bei der DMG zunächst den leichteren Modellen am unteren Ende des Spektrums vorbehalten ist, kommt gemeinsam mit dem Mercedes 22/40 PS im Jahr 1910 auch ein größerer und leistungsstärkerer Kardanwagen ins Sortiment, der Typ 28/50 PS. Sein Reihenvierzylindermotor leistet aus 7,2 Liter Hubraum 50 PS (37 kW) bei 1200/min. Zum Jahr 1913 steigt die Leistung auf 60 PS (44 kW) bei 1300/min. Entsprechend firmiert das Modell nun unter der Bezeichnung 28/60 PS.
Der Typ 28/50 PS (später 28/60 PS) ist von Anfang 1912 bis 1914 parallel als Cardan- wie auch als Kettenwagen erhältlich. Das Gleiche trifft für den 22/40 PS (später 22/50 PS) zu. Allerdings gibt es diese Version nur in der Sonderausführung Camp- oder Kolonialwagen für schlechte Wegstrecken und unwegsames Gelände. Kennzeichen der Camp- oder Kolonialwagen ist ihre höhere Bodenfreiheit bei vergrößerter Spurweite.
Ausweitung des Programms
Ein Jahr nach der Markteinführung des Mercedes 35 PS Cardan-Wagens folgt im Mai 1909 der Typ 15/20 PS, der das Verkaufsprogramm um ein preiswertes Einstiegsmodell mit Kardanantrieb ergänzt. Bei seiner Präsentation auf dem Pariser Automobil-Salon im Dezember 1908 hat der 15/20 PS noch einen Vierzylindermotor konventioneller Bauart mit stehenden Ventilen. Die Serienausführung hat dagegen 1909 eine modernere Konstruktion mit hängenden Einlassventilen.
Die Typenbezeichnung des 15/20 PS, bei der die erste Zahl die Nominal- und die zweite Zahl die Effektivleistung angibt, ändert sich 1909 analog zur Umbenennung des Typ 35 PS. Der kleinere Cardan-Wagen heißt nun 10/20 PS, wobei die erste Angabe die aus dem Hubraum errechneten Steuer-PS angibt. Von Juni 1913 an firmiert der 2,6-Liter-Typ dann als Mercedes 10/25 PS. Tatsächlich leistet sein Motor 25 PS (18 kW) bei 1600/min.
Der Typ 14/30 PS ist ein weiterer Kardanwagen, der konstruktiv dem 10/20 PS entspricht. Das Modell erscheint 1910 und hat einen Motor mit 3,6 Liter Hubraum. Aus diesem Aggregat entwickelt der Wagen 30 PS (22 kW) bei 1600/min. Mitte 1913 steigt die Leistung auf 35 PS (26 kW) bei 1700/min, und der Typ wird in 14/35 PS umbenannt.
Kette bleibt Antrieb der Wahl bei großen Automobilen
Der 28/50 PS (28/60 PS) ist innerhalb des Mercedes-Verkaufsprogramms im mittleren Bereich eingestuft, die anderen Cardan-Typen liegen darunter. Im oberen Marktsegment setzt die DMG parallel weiterhin auf Kettenantriebe. So erscheint 1910 in der Oberklasse der Mercedes 38/70 PS, der nur als Kettenwagen angeboten wird. Er hat einen Neunliter-Motor mit zwei Zylinderpaaren und seitlichen Nockenwellen mit stehenden Ventilen. Im Juni 1913 wird er in 38/80 PS umbenannt.
Auch das im Juni 1911 eingeführte neue Topmodell Mercedes 37/90 PS hat einen Kettenantrieb. Dieser neue Hochleistungswagen bietet einen Vierzylindermotor mit Dreiventiltechnik und Doppelzündung. Er löst die seit 1907 gebauten Sechszylindertypen ab. Als besondere Neuerung sind die Antriebsketten gekapselt und laufen im Ölbad. Trotz dieser Innovation ist die Antriebstechnik mit Kette ein Auslaufmodell: Der 37/90 PS ist die letzte Neuentwicklung der Daimler-Motoren-Gesellschaft, die mit Kettenantrieb auf den Markt kommt.
Der Namensgeber des Cardan-Antriebs
Die Daimler-Motoren-Gesellschaft bezeichnet ihre Cardan-Wagen konsequent in der Schreibweise mit C, während sich allgemein die Version mit K im deutschen Sprachraum durchsetzt. Dabei ist die DMG-Schreibweise eigentlich korrekter. Schließlich ist das Kardangelenk nach dem italienischen Mathematiker, Philosophen und Arzt Gerolamo Cardano benannt (1501 bis 1576). Cardano beschreibt als erster Autor der Frühen Neuzeit in einem seiner Werke die seit der Antike bekannte Aufhängung von Messgeräten in einem System von beweglichen Ringen, die später seinen Namen erhält. Auch das auf ähnlichen mechanischen Prinzipien basierende Kreuzgelenk wird nach Cardano bezeichnet. Der italienische Mathematiker ist jedoch nicht dessen Erfinder.
Quelle: Daimler AG