Erinnern Sie sich noch ? Im Jahr 1955 hieß der deutsche Fußballmeister Rot-Weiß Essen – und der damalige Bundeskanzler nahm Platz im Mercedes-Benz gleichen Namens. Das damalige Wirtschaftswunder verlangte nach neuen Transportmitteln – und das lieferte Mercedes-Benz mit dem L 319, dem ersten Transporter mit Stern – damals „Schnell-Lastwagen“ genannt und gilt als Vorläufer für viele andere Baureihen, u.a. dem Sprinter, Vario und Vito. Als direkter Nachfolger kam später der Mercedes-Benz T 2 – als „Düsseldorfer Transporter“ bekannt.
Nach einer ganzen Generation neuer Lkw und nach neuen Omnibussen dehnt die damalige Daimler-Benz AG ab 1955 ihr Nutzfahrzeug-Programm in leichtere Gewichtsklassen aus. Mit 3,6 Tonnen Gesamtgewicht und kompakten Abmessungen kommt die neue Baureihe L 319 für Handwerk, Handel und Gewerbe gerade recht und schloss die Lücke, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1941 durch die Einstellung des Typs L 1100 entstanden war. Die Mitbewerber boten hier u.a. den Opel Blitz sowie den Hanomag Kurier an.
Den Ansprüchen handfester Naturen entsprach auch die verwendete Technik: Ein tragender Leiterrahmen für die Fahrgestelle und Pritschen – der Kastenwagen hat eine mittragende Konstruktion –, blattgefederte Starrachsen vorne und hinten sowie Zwillingsbereifung an der Hinterachse und große 16-Zoll-Räder bedeuten belastbare Technik. Sie verkraftet klaglos auch raue Behandlung, wie sie in Besitzerkreisen größerer Transporter üblich ist. Trotz seiner robusten Bauweise verfügt der L 319 über eine hohe Nutzlast: Sie beläuft sich je nach Variante auf 1,6 bis 1,8 Tonnen.
Frontlenker-Optik im Stil der Lkw und Omnibusse
Ungewöhnlich trat der L 319 optisch auf: Fuhren schwere und leichte Lastwagen in den fünfziger Jahren üblicherweise als Haubenwagen vor, so nutzt man für leichte Transporter gerne die Platz sparende Frontlenker-Bauweise. Folgerichtig wählen die Entwickler für den L 319 eine Optik, die den zwei nahezu parallel erscheinenden Baureihen LP 315 (der erste Frontlenker-Lkw von Mercedes-Benz) und dem rundlichen Omnibus O 321 H ähnelt: Der ovale Grill des L 319 fasst dazu vorne sowohl den großen Stern als Markenzeichen ein als auch die Rundscheinwerfer. Analog zu Omnibus und Lkw ziert den Transporter ebenfalls ein Band aus Chrom. Es zieht sich unter der Windschutzscheibe quer über die rundliche Frontpartie bis seitlich über die Türen des Fahrerhauses.
Im Unterschied zu Lkw und Bus verfügte der L 319 jedoch über eine einteilige, kühn geschwungene Panorama-Frontscheibe. Trotz Frontlenker-Bauweise erreichen die Konstrukteure einen komfortablen Einstieg hinter der Vorderachse. Die deshalb ungewöhnlich weit nach vorn gerückte Achse und dynamisch ausgestellte Radläufe geben der Optik des Transporters ein sehr eigenständiges Gepräge.
Die Fahrzeuglänge lag bei 4.820 mm (2.080 mm Breite, 2.365 mm Höhe), der Radstand lag bei 2.850 mm (Bus, Kastenwagen und Pritschenwagen), als reiner Pritschenwagen oder beim Fahrgestell lag der Radstand bei 3.600 mm. Die Nutzlast lag beim Kastenwagen bei 1.625 kg, beim Pritschenwagen bei 1.775 kg, das Leergewicht bei 1.975 kg (Kastenwagen) bzw. 1.775 kg (Pritschenwagen).
Antriebstechnik aus dem Pkw mit Benzin- und Dieselmotorisierung
Hinter der flachen Frontpartie arbeiten im L 319 Vierzylindermotoren mit einer eher zurückhaltenden Leistung. Anfangs stand ausschließlich der Dieselmotor aus dem Pkw 180 D zur Verfügung, welcher mit 1.8 Liter Hubraum nur 43 PS leistete – als L 319 D. Bald darauf ergänzte der Benziner aus dem 190 mit 1,9 Liter Hubraum und 65 PS zusätzlich das Programm – als L 319. Die Transporter laufen anfangs bis zu 95 km/h (Benziner) oder 80 km/h (Diesel) schnell – Robustheit zählte jedoch deutlich mehr als Geschwindigkeit. Die Kraftübertragung erfolgt jeweils über ein Vierganggetriebe (4 Vorwärts, 1 Rückwärts) auf die Hinterachse. Der Schalthebel am Lenkrad ist ein früher Vorläufer des Joysticks im Sprinter. Blinker und Hupe werden über einen Signalring am Volant betätigt.
Bis in das Jahr 1961 wurde der Benziner mit 48 kW (95 km/h) angeboten, danach mit 50 kW (100 km/h) und im Jahr 1965 wurde die Leistung auf 59 kW (110 km/h) gesteigert. Der Diesel verfügte bis ins Jahr 1961 über 32 kW (80 km/h), danach über 37 kW (90 km/h)- und ab dem Jahr 1965 über 40 kW (95 km/h). Das Drehmoment des Benziners lag anfangs bei 125 Nm, ab 1961 bei 129 Nm – beim Diesel lag der Drehmoment bei 98 Nm – ab 1961 bei 108, bzw. ab 1965 bei 113 Nm.
Nicht nur mit Antriebstechnik und Schaltung zeigt der L 319 eine enge Verwandtschaft zu den Pkw des Hauses. Auch der erste Prospekt betont mit einer damals üblichen Zeichnung auf der Titelseite die Klammer zwischen Nutzfahrzeug und Pkw: Auf dem Bild reiht sich der L 319, einsatztypisch vor einer Gemüsehandlung drapiert, in den Straßenverkehr ein. Am Transporter vorüber ziehen eine Mercedes-Benz „Ponton“-Limousine und der Sportwagen 300 SL.
Starten und Service verlangen Aufmerksamkeit vom Fahrer
Das Starten des Dieselmotors im L 319 D lässt sich mit dem kurzen Prozess in modernen Direkteinspritzern nicht vergleichen. Das Vorkammertriebwerk verlangt beim Kaltstart nach der klassischen Diesel-Gedenkminute – so lange etwa muss der Fahrer den Starterhebel gezogen halten. Klaglos versorgt der Transporter-Lenker alle 1000 Kilometer mit der Fettpresse eine Handvoll Schmierstellen rund um das Fahrgestell. Die Betriebsanleitung informiert ausführlich über das Nachziehen der Zylinderkopfschrauben und das Einstellen des Ventilspiels und das Reinigen von Öl- und Kraftstofffilter – der Fahrer ist in jenen Jahren für einfachere Arbeiten ganz selbstverständlich auch sein eigener Mechaniker. Die geradlinige Form des Armaturenbretts macht ihrer Bezeichnung alle Ehre, das Instrumentenbord enthält gerade mal einen Tachometer und ein Kühlwasserthermometer – mehr Instrumente gibt es nicht. Eine Tankuhr fehlt, der Fahrer muss selbst kalkulieren, wie weit der Kraftstoff im 60-Liter-Tank reicht.
Geräumiger Laderaum, mehrere Varianten
Dank der kompakten Frontlenker-Bauweise des nur 4,8 Meter langen Transporters misst der Laderaum in der Länge immerhin drei Meter, das Volumen beläuft sich beim Kastenwagen 8,6 Kubikmeter – da kann man ordentlich einpacken. Es gibt den L 319 als Kastenwagen, Pritschenwagen, Tieflader sowie als Verkaufswagen mit Markisenverschlüssen an Seiten und Heck, bezeichnet als „ offener Lieferwagen“. Auch ein Kastenwagen mit Schiebetüren zählt zum Angebot. Doch Vorsicht: Damit sind Platz sparende Schiebetüren für das Fahrerhaus gemeint, die Schiebetüren für den Laderaum sind in diesen Jahren noch nicht erfunden, das Frachtabteil ist beim Kastenwagen nur von hinten durch Drehtüren zugänglich.
Gefertigt in Sindelfingen, Düsseldorf, Vitoria und Mannheim
Im Laufe seines zwölf Jahre langen Lebens – die Serienfertigung beginnt 1956 und endet erst 1968, verleihen stärkere Motoren mit bis zu 55 PS (Diesel) und 80 PS (Benziner) dem L 319 mehr Schwung. Der L 319 wurde mittels des M 121 Ottomotors betrieben (1897 cm³, ab 1965 mit 1988 cm³), der L 319 D bis 1961 mit dem OM 636, danach mit dem OM 621 (dann statt 1.767 cm³ mit 1.988 cm³).
Ohnehin verbringt der Transporter ein bewegtes Leben: Zunächst in Sindelfingen gefertigt, wechselt der Produktionsstandort 1962 nach Düsseldorf. Dieses Werk hatte die Daimler-Benz AG 1958 zusammen mit der Auto Union übernommen, und ist bis heute das Leitwerk für die Transporter des Konzerns und jetzt die Heimat des Mercedes-Benz Sprinter. Dritter Standort des L 319 ist Vitoria in Spanien, dieses Werk montiert den Transporter in den sechziger Jahren aus Teilesätzen, zugeliefert aus Düsseldorf. In Mannheim entstehen auf Basis des Kastenwagens kompakte Omnibusse.
Sogar die Typenbezeichnung ändert sich mit den Jahren. Geht der anfängliche Modellname L 319 wie damals üblich auf die interne Konstruktionsbezeichnung zurück, so wechselt sie ab 1963 in die noch heute gültige Nomenklatur aus Tonnage und Leistung. So endet die Geschichte des L 319 im Jahr 1968 (in Spanien erst 1970) als L 408 und L 406.
Sympathieträger: der kompakte Omnibus O 319
Bis zu diesem Zeitpunkt haben in den vier Werken rund 140 000 Kastenwagen, Pritschen, Fahrgestelle und Omnibusse das Licht der Welt erblickt. Der handliche Bus O 319/O 319 D, zunächst im Werk Mannheim gefertigt, spielt als Sympathieträger eine besondere Rolle in der Karriere dieser Modellfamilie. Es gibt ihn ab 1956 sowohl in funktionellen Varianten für den Berufsverkehr mit bis zu 18 Sitzplätzen als auch in Versionen als Reisebus. Spitzenmodell im Programm ist der O 319 mit Dachrandverglasung, Faltschiebedach, zweifarbiger Lackierung und Luxusbestuhlung für zehn Passagiere – heute würde man ihn als Clubbus bezeichnen. Die Aussicht ist bestens, die Fahrgäste genießen großen Komfort: Nur drei Sitzreihen mit jeweils drei Einzelsitzen im Fahrgastraum bedeuten viel Platz und einen großen Gepäckraum im Heck. Einzelsitze mit roten Veloursbezügen, Armlehnen, verstellbare Rückenlehnen, Gepäckablagen und verchromte Aschenbecher verbreiten ein gehobenes Ambiente und sind für damalige Verhältnisse Luxus pur.
Quelle: Daimler AG