Im Jahre 1998 zeigte Mercedes-Benz eine realitätsnahe Vision zum Zukunft des Autofahrens, die im Cockpit dabei ganz ohne Lenkrad und Pedale auskam: ein Versuchsfahrzeug auf Basis der SL-Baureihe R 129 (von 1989 bis 2001 in der Produktion). Das Fahrzeug wurde mit Sidesticks gesteuert, wie man es vorab im Jahr 1996 bereits im F 200 Imagination vorgestellt hatte.
Mit diesen Hebeln, die jeweils seitlich des Fahrers in der Mittelkonsole und in der Türverkleidung integriert sind, kann gelenkt, beschleunigt und verzögert sowie geblinkt werden. Je nach Wunsch kann der Fahrer alle Funktionen (dazu kommt noch die Hupe) mit einem einzigen Sidestick steuern oder beide Hebel, die elektronisch miteinander gekoppelt sind, gleichzeitig benutzen.
Mag der Sidestick auf den ersten Blick auch an die Joysticks von Spielekonsolen und Computern erinnern, der im Versuchsfahrzeug eingebaute Sidestick ist kein elektronisches Spielzeug, sondern ein absolutes Präzisionsgerät. Gelenkt wird der Wagen durch Neigen des Griffs nach links oder nach rechts. Beschleunigt und gebremst wird, indem der Fahrer den Hebel nach vorne drückt oder nach hinten zieht. Für Blinker und Hupe gibt es Tasten am oberen Ende des Steuerknüppels.
Keine mechanische Verbindung zum Fahrwerk oder Motor
Eine mechanische Verbindung zwischen den Eingabegeräten einerseits und Fahrwerk sowie Motor andererseits besteht nicht mehr. Vielmehr werden alle Signale elektronisch übertragen. Möglich macht diese neuartige Schnittstelle zwischen Fahrer und Automobil (Mensch-Maschine-Schnittstelle oder Human-Machine Interface, kurz HMI) die „Drive-by-Wire“-Technik. So wird das System aus Sensoren und Aktuatoren genannt, das die Steuersignale des Fahrers abliest, elektronisch auswertet und schließlich an die entsprechenden Komponenten des Autos überträgt. Nicht nur Form und Anordnung der Sidesticks unterscheiden das Fahren mit einem so ausgestatteten Auto vom Steuern eines Wagens mittels Lenkrads. Auch die Art und Weise, wie Steuersignale technisch erzeugt werden, folgt jeweils anderen Grundsätzen. So wird die Drehung des Lenkrads (meist im Verhältnis 1 : 20 reduziert) auf den Einschlag der Räder an der Vorderachse übertragen. Das macht ein sehr präzises Lenken möglich, braucht aber einen großen Verstellwinkel. Sidesticks hingegen benötigen nur einen Verstellweg von jeweils rund 20 Grad nach links und rechts. Diese Bewegung wird nicht proportional auf die Räder übertragen, weil sich das Auto damit vor allem bei hoher Geschwindigkeit nicht mehr zuverlässig steuern lässt. Statt der Abweichung des Hebels misst das System den Druck, den der Fahrer auf den Griff ausübt. Daraus schließt die Fahrzeugelektronik auf den vom Fahrer gewünschten Lenkwinkel, der dann vom elektronischen Steuergerät auf den Lenk-Aktuator übertragen wird – und zwar je nach Fahrgeschwindigkeit in unterschiedlicher Untersetzung. Umgekehrt gibt der Sidestick mit einem Motor das Verhalten des Fahrwerks als mechanischen Widerstand zurück an den Fahrer und vermittelt so ein Gefühl für die Straße.
Bei der Eingabe von Beschleunigung und Verzögerung wird der Hebel sogar überhaupt nicht verschoben. Hier registrieren lediglich Kraftmessglieder die Kraft, mit welcher der Hebel nach vorne gedrückt oder nach hinten gezogen wird. Auch diese Impulse rechnet das System in Steuersignale um, die diesmal an Motor und Bremsen übermittelt werden.
Der R 129 mit Sidestick-Steuerung ist das voll einsatzfähige Ergebnis langjähriger Forschung zum Fahren ohne Lenkrad und Pedale bei Mercedes-Benz. Projekte wie dieser rein elektronisch gesteuerte SL sind Ausdruck des konsequenten Willens zur Innovation – und damit zugleich Dokument dafür, wie Daimler immer wieder Verantwortung dafür übernimmt, das Auto als modernes Mobilitätssystem weiterzuentwickeln. Diese visionäre Tradition lässt sich zurückverfolgen bis auf das Jahr 1886, als Carl Benz und Gottlieb Daimler unabhängig voneinander den Kraftwagen mit Verbrennungsmotor erfinden.
Um neue, originale Lösungen zu finden, die auf Rahmenbedingungen der modernen Gesellschaft und ihrer Infrastruktur Bezug nehmen, muss man über die Grenzen des Bestehenden hinweg denken. Und genau das leisten die Ingenieure, die den SL mit „Drive-by-Wire“-Technik entwickeln: Zum Vorbild für die elektronische Steuerung nehmen sie sich die Technik moderner Flugzeuge. Hier hat zum Beispiel Airbus in den 1980er-Jahren Maßstäbe gesetzt durch die Einführung von Sidestick-Steuerungen in seinen Verkehrsflugzeugen.
Drive-by-Wire Steuerung im Versuchsfahrzeug
Im Forschungsfahrzeug auf Basis der Baureihe R 129 bewährt sich dieses in der Luftfahrt etablierte Verfahren auch auf der Straße. Die ausgiebige Erprobung des Systems zeigt dabei mehrere Vorteile der „Drive-by-Wire“-Steuerung auf: Die neue Technik ist sicherer als das herkömmliche Lenksystem, außerdem bietet sie ergonomische Vorteile.
Sidesticks als Brückenschlag zur Luftfahrt
Am Anfang steht der Lerneffekt. Denn ein Automobil wird nach Meinung fast aller Menschen gelenkt, indem der Fahrer die Stellung der Räder durch das Drehen eines Lenkinstruments mechanisch beeinflusst. Diese Maxime gilt seit der Erfindung des Kraftwagens mit Verbrennungsmotor durch Carl Benz und Gottlieb Daimler im Jahr 1886. Der Einzug von immer mehr elektrischen und elektronischen Systemen in das Auto hat daran prinzipiell nichts verändert. Auch die Pedale als etablierte Eingabesysteme für Beschleunigung (Gas) und Verzögerung (Bremse) gehören nach wie vor zur Grundausstattung jedes Autos. Selbst moderne Elektroautos werden nach wie vor so bedient.
Der Einsatz von Sidesticks zur Steuerung des Fahrzeugs würde also einen revolutionären Bruch mit dieser mehr als 125 Jahre alten Tradition bedeuten. Doch der Verzicht auf Lenkrad und Pedalerie hätte deutliche Vorteile. Das zeigen die Forschungsergebnisse aus der Erprobung des SL mit „Drive-by-Wire“ -Technik und anderen, ähnlich ausgestatteten Versuchsfahrzeugen von Mercedes-Benz.
Ergonomische Vorzüge im Cockpit
Auf den ersten Blick ersichtlich sind die ergonomischen Vorzüge. Denn der Fahrer hat mehr Bewegungsfreiheit und einen besseren Blick auf die Instrumente des Cockpits, zudem erlauben ihm die Sidesticks eine bequemere Körperhaltung als in herkömmlich konfigurierten Automobilen: Die Füße können beliebig positioniert werden, auch die Arme müssen nicht mehr in einer kontinuierlich gestreckten Haltung mit den Händen am Lenkrad bleiben. Stattdessen ruhen sie bequem auf Armauflagen in Mittelkonsole und Türverkleidung, was die Schultermuskulatur entlastet. Die entsprechende Sitzhaltung lässt sich durch elektrische Hilfen einstellen und speichern. Bei einem Unfall, insbesondere bei Frontal-Crashs, macht sich der veränderte Innenraum auch aus der Perspektive der passiven Fahrzeugsicherheit bemerkbar. Denn weder Pedale noch Lenkrad können in den Innenraum eindringen und Verletzungen hervorrufen.
Auch die aktive Sicherheit profitiert von „ Drive-by-Wire“-Systemen. Denn sie können den Fahrer beim Lenken, Gasgeben und Bremsen intelligent unterstützen, indem sie die Steuersignale nicht nur registrieren, sondern auch interpretieren. So werden in Sekundenbruchteilen die Sollwerte für eine sichere Fahrweise im jeweiligen Fahrzustand berechnet und vom computergesteuerten Fahrdynamiksystem mit den Steuersignalen des Fahrers verglichen. Die Elektronik führt dann die über den Sidestick gegebenen Lenk-, Beschleunigungs- und Bremsbefehle des Autofahrers so aus, dass der Wagen auch in kritischen Situationen sicher in der Spur bleibt.
Aber auch rein ergonomisch erweist sich die Steuerung über die kleinen Hebel dem Ensemble aus Lenkrad und Pedalen überlegen. Bei scharfen Bremsmanövern in Notfällen ist beispielsweise die Reaktionsgeschwindigkeit in Sidestick-Fahrzeugen jener in konventionellen Automobilen überlegen: Für den Wechsel der Pedale benötigt ein Fahrer bei einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 80 km/h etwa 10 Meter zusätzlich zum reinen Bremsweg. Mit „Drive-by-Wire“ wird das Signal zur Vollbremsung dagegen fast unverzögert gegeben. Dass Mercedes-Benz diese voll praxisreife Technik im Jahr 1998 in einem SL der Baureihe R 129 vorstellt, spiegelt eine große Tradition wider. Denn die zweisitzigen, offenen Sportwagen der SL-Klasse haben immer wieder Maßstäbe für technische Innovationen gesetzt.
In die Serie wurde die Steuerung bekanntlich nie übernommen.
Quelle: Daimler AG