Der Mercedes-Benz 300 SLR „722“ – Technik, Triumph und Mythos

 

Er zählt zu den legendärsten Rennwagen aller Zeiten: der Mercedes-Benz 300 SLR mit der Startnummer 722. Mehr als nur ein Fahrzeug, steht dieser Silberpfeil für technische Perfektion, mutiges Rennfahren und ein historisches Kapitel des Motorsports. Heute ist das Originalfahrzeug im Mercedes-Benz Museum in Stuttgart zu sehen – als glanzvoller Mittelpunkt der Ausstellung „Mythos 7: Silberpfeile – Rennen und Rekorde“.

Der Mercedes-Benz 300 SLR „722“ – Technik, Triumph und Mythos

Der Ursprung einer Legende

Die „722“ ist mehr als eine Startnummer – sie markiert eine der bedeutendsten Stunden der Rennsportgeschichte. Am 1. Mai 1955 ging das britische Duo Stirling Moss und Denis Jenkinson um exakt 7:22 Uhr bei der Mille Miglia an den Start – einem traditionsreichen Langstreckenrennen über rund 1.600 Kilometer von Brescia nach Rom und zurück. Die Fahrt wurde zum Mythos: In nur 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden überquerten sie die Ziellinie mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 157,6 km/h – eine bis heute unerreichte Bestmarke.

Der Mercedes-Benz 300 SLR „722“ – Technik, Triumph und Mythos

Ein Formel-1-Herz für die Straße

Der 300 SLR war ein Meisterwerk der Technik. Basierend auf dem Formel-1-Rennwagen W 196 R, kombinierte er modernste Rennsporttechnologie mit der nötigen Ausstattung für Langstreckenrennen auf öffentlichen Straßen. Zwar verfügte der Wagen über Blinker, Lichtanlage, Kennzeichen und sogar ein hochklappbares „D“ als Länderkennung für Deutschland – doch sein Wesen war kompromisslos auf Leistung ausgelegt.

Im Herzen des Fahrzeugs arbeitete ein 3,0-Liter-Reihenachtzylinder-Motor mit Direkteinspritzung. Er leistete 276 PS (203 kW) bei einer optimalen Drehzahl von 7.000/min – die Skala des zentralen Drehzahlmessers reichte sogar bis 11.000/min. Die Kraft wurde über eine Antriebswelle, die mit bis zu 7.800 U/min durch den Kardantunnel lief, zur Hinterachse übertragen.

Innenraum für Könner

Im Cockpit herrscht funktionale Präzision. Die Bedienelemente sind speziell für Langstreckenrennen konzipiert: Ein Drehschalter aktiviert Lichtsysteme in mehreren Stufen, daneben liegt der Anlasserknopf. Blinker- und Zündkontrollen, Frischluftklappe, Choke-Hebel und der Zündmagnetschalter des Schweizer Herstellers Scintilla ermöglichen dem Fahrer volle Kontrolle.

Die Instrumentierung ist auf das Wesentliche reduziert, aber hochspezialisiert. Neben dem zentralen Veglia-Drehzahlmesser gibt es Anzeigen für Öldruck und Kühlwassertemperatur – auf einen Tachometer wurde verzichtet, denn Geschwindigkeit war hier nicht relativ, sondern absolut: Man fuhr stets am Limit.

Perfekt bis ins Detail

Selbst die Wahl des Lenkrads war durchdacht. Stirling Moss entschied sich für ein drei-Speichen-Lenkrad, um freie Sicht auf die Instrumente zu haben. Nach dem Triumph schenkte ihm das Mercedes-Benz Team dieses Lenkrad – es wurde später originalgetreu nachgebaut und ist heute im ausgestellten Fahrzeug verbaut.

Die Pedalanordnung ist außergewöhnlich: Gas und Bremse rechts, die Kupplung links vom Kardantunnel. Die Schalensitze sind mit blau kariertem Gabardine-Stoff bezogen, bekannt aus dem legendären 300 SL „Flügeltürer“. Die Seitenlehnen sind mit blauem Leder verkleidet – ein stilvoller Kontrast zur rohen Funktionalität.

Der Mercedes-Benz 300 SLR „722“ – Technik, Triumph und Mythos

Aerodynamik und Ingenieurskunst

Die Karosserie des 300 SLR ist aus leichtem Magnesiumblech (Elektron) gefertigt – nicht nur für geringes Gewicht, sondern auch für optimale Aerodynamik. Zwei stromlinienförmige Abdeckungen hinter den Kopfstützen können per Schnellverschluss geöffnet werden; eine davon gibt den Tankdeckel frei. Eine gebogene, rahmenlose Kunststoff-Windschutzscheibe schützt Fahrer und Beifahrer vor dem Fahrtwind – eine technische Innovation der Zeit.

Auf einen Endschalldämpfer wurde verzichtet: Zwei röhrende Auspuffrohre auf der rechten Fahrzeugseite zeigen, dass hier Rennsport gelebt wird. Aus praktischen Gründen fehlt dort auch eine Tür – der Fahrer steigt links über eine nach oben öffnende Klappe ein.

Navigation mit dem „Gebetbuch“

Ein Schlüssel zum Sieg bei der Mille Miglia war die exzellente Navigation. Jenkinson entwickelte ein einzigartiges System: eine Papierrolle mit Streckennotizen, montiert in einem stabilen Gehäuse mit Schutzscheibe – das sogenannte „Gebetbuch“. Während des Rennens las er daraus im Sekundentakt Kurven, Gefahrenstellen und Streckenabschnitte vor. Eine Replik dieses Originals ist heute ebenfalls im Mercedes-Benz Museum ausgestellt, als Teil der Reihe „33 Extras“.

Der Mercedes-Benz 300 SLR „722“ – Technik, Triumph und Mythos

Der Mercedes-Benz 300 SLR „722“ – Technik, Triumph und Mythos

Ein Denkmal des Erfolgs

Der 300 SLR „722“ steht heute als Symbol für den sportlichen Höhepunkt der Mercedes-Benz Motorsportsaison 1955. Der doppelte Triumph bei der Mille Miglia – Platz 1 für Moss/Jenkinson, Platz 2 für Juan Manuel Fangio – untermauerte die Überlegenheit der Silberpfeile.

Fünfzig Jahre nach dem Sieg, am 19. Mai 2005, verewigte sich Stirling Moss mit einer persönlichen Widmung auf der silbernen Motorhaube: „We did it together – my thanks and affection.“ Ein Statement, das nicht nur den Teamgeist, sondern auch die tiefe emotionale Verbindung zum Fahrzeug ausdrückt. Zehn Jahre später, 2015, bezeichnete er den SLR als „das beste je gebaute Auto“ – ein Urteil, dem viele Motorsportfans nur zustimmen können.

Ausgestellt für die Ewigkeit

Wer heute das Mercedes-Benz Museum in Stuttgart besucht, trifft in Raum „Mythos 7“ auf ein rollendes Stück Rennsportgeschichte. Der originalgetreu erhaltene Mercedes-Benz 300 SLR „722“ zieht alle Blicke auf sich – nicht nur wegen seiner Technik oder seiner Vergangenheit, sondern wegen der Aura eines Fahrzeugs, das alles vereint: Geschwindigkeit, Präzision, Innovation und Legende.

Bilder: Mercedes-Benz Group AG