Mit dem über 70 Jahre alten Windkanal in Stuttgart-Untertürkheim verfügte Mercedes-Benz als erster Automobilhersteller über einen Windkanal. Mit dem neuen Aeroakustik-Windkanal im Entwicklungszentrum Sindelfingen setzt sich das Unternehmen wieder an die Spitze des aerodynamischen Versuchs.
So sieht Vertrauen in die Zukunft aus: 2008, mitten in der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, fiel der Startschuss für den Bau des neuen Aeroakustik-Windkanals von Mercedes-Benz. Im Kampf gegen Luftwiderstand und Windgeräusche verfügen die Entwickler von Mercedes-Benz damit ab Mitte 2013 erstmals direkt im Pkw-Entwicklungszentrum Sindelfingen über eine entsprechende Anlage. Neben dem vor zwei Jahren in Betrieb genommenen Klima-Kanal und dem neuen Fahrsimulator-Zentrum komplettiert er die neuen Prüfeinrichtungen im Mercedes-Benz Technology Center und stärkt so die Entwicklungskompetenz von Mercedes-Benz in Deutschland.
Das Gebläse: 265 km/h Windgeschwindigkeit, 5 MW Leistung
Der neue Windkanal folgt der Göttinger Bauart, das heißt, die Luft wird nach der Messstrecke wieder zum Gebläse geleitet und erneut beschleunigt, was viel Energie spart. Das Gebläse hat einen Durchmesser von neun Metern und besitzt 18 Laufschaufeln, die die Luft in Bewegung setzen. Das maximale Drehmoment des elektrischen Antriebsmotors beträgt mit 202.150 Nm etwa das Tausendfache eines gut motorisierten Fahrzeugs. Bei einer Windgeschwindigkeit von 250 km/h beträgt die Leistungsaufnahme fünf Megawatt. Dann dreht sich das Gebläse mit 238 Umdrehungen pro Minute, der Volumenstrom erreicht dann 2.000 m³ oder etwa drei Einfamilienhäuser pro Sekunde. Die maximale Windgeschwindigkeit beträgt 265 km/h.
Im Windkanal wird eine Lufttemperatur von 23 bis 24°C eingehalten. Um auch bei winterlichen Außentemperaturen exakt messen zu können, ist die Betonröhre des Kanals von einem Gebäude umgeben und somit isoliert. Im Betrieb heizt der Antriebsmotor des Gebläses die im Windkanal zirkulierende Luft zunehmend auf. Bei warmen Außentemperaturen wird sie daher durch den hinter dem Gebläse angebrachten Wärmetauscher wieder gekühlt.
Bevor die vom Gebläse beschleunigte Luft über eine Düsenfläche von 28 m² in die Messstrecke gelangt, muss sie gerichtet und geglättet werden, um störende Turbulenzen und Wirbel zu eliminieren. Dafür sorgen Gleichrichter und Siebe. Für die Nutzung als Akustik-Kanal, in dem die Windgeräusche innen und außen am Versuchsfahrzeug gemessen werden, wurden umfangreiche Geräuschdämm-Maßnahmen integriert. Noch bei 140 km/h strömt die Luft daher flüsterleise durch die Messstrecke.
Messstrecke: fünf Laufbänder bis 265 km/h
Kernstück der 19 Meter langen Messstrecke des Windkanals ist das etwa 90 Tonnen schwere Laufband-Waage-System mit Drehscheibe. Der neue Windkanal besitzt ein Fünf-Band-System zur Simulation der Straße: Unter jedem Rad läuft ein kleines Laufband und zwischen den Rädern ein neun Meter langes und über ein Meter breites Mittenlaufband. Alle fünf Bänder laufen synchron mit dem Wind und stellen damit bis 265 km/h exakt die gleichen Bedingungen wie auf der Straße dar. Die 24 Tonnen schwere Waage, auf der die Fahrzeuge befestigt werden, ist äußerst sensibel und misst auf wenige Gramm genau. Selbst die Zuführungen der Kabel müssen so verlegt werden, dass sie keine störenden Kräfte in das System bringen. Die mit Hilfe der aerodynamischen Waage gemessenen Werte dienen als Grundlage zur Bestimmung der Beiwerte für Luftwiderstandskraft, Seitenkraft und Auftriebskraft pro Achse sowie von Nick-, Roll- und Giermoment.
Das Laufband-Waage-System ist in eine Drehscheibe mit zwölf Meter Durchmesser integriert. So können die zu messenden Fahrzeuge auch unter einem Winkel angeströmt werden, um Seitenwind zu simulieren. Außerdem erleichtert dies den Austausch der Testfahrzeuge in der Messstrecke. Die Versuchsfahrzeuge werden in Werkstätten im Windkanalgebäude unmittelbar neben der Messstrecke vorbereitet. Insgesamt wurde sehr darauf geachtet, die Versuchsfahrzeuge möglichst schnell austauschen zu können, um eine effektive Nutzung des Windkanals zu ermöglichen.
Traversieranlage: exakte Messungen auch bei 265 km/h
Die Traversieranlage versetzt die Ingenieure in die Lage, verschiedene aerodynamische Sonden oder Mikrophone mit sehr hoher Genauigkeit um das Messobjekt zu platzieren, um so Druck-, Akustik- und Geschwindigkeitsmessungen exakt durchführen zu können. Die Anlage im neuen Sindelfinger Windkanal verfügt über sieben Achsen (drei Translations- [Parallelverschiebungs-] und vier Rotationsachsen) und kann so ein Messvolumen von 19 x 14 x 5 Meter abdecken. Das Gewicht dieser Anlage beträgt 26 Tonnen, denn auch bei maximaler Windgeschwindigkeit müssen die Messsonden exakt und ohne Schwingungen an ihrer Position gehalten werden.
Neben fortschrittlichen Simulationsprogrammen am Computer verfügt Mercedes-Benz jetzt über alle Einrichtungen, um die führende Position in der aerodynamischen Effizienz und dem aeroakustischen Komfort seiner Fahrzeuge weiter auszubauen. Dr. Teddy Woll, Leiter der Abteilung Aerodynamik/Windkanäle der Daimler AG, erläutert: „Computer und Windkanal sind hervorragende Werkzeuge, die sich in idealer Weise ergänzen: Mit der numerischen Strömungsberechnung können wir uns sehr komplexe Strömungsphänomene anschauen und jede kleine Turbulenz bis zu ihrer Entstehung zurückverfolgen. Und im Windkanal können wir viele Varianten schnell durchspielen – da kommen dann in einem Windkanaltag oft große Verbesserungen an und ins Auto.“
Quelle: Daimler AG