Gespannt fieberten Motorsport-Liebhaber und Automobilbranche vor 90 Jahren diesem Rennen entgegen: Im III. Großen Preis von Deutschland 1928 auf dem Nürburgring hatte der neue Mercedes-Benz SS Rennsport-Tourenwagen Premiere. Zwei Wochen zuvor gewann Rudolf Caracciola bereits mit einem als Typ S gemeldeten Typ SS das Bergrennen auf die Bühler Höhe im Rahmen des Baden-Badener Automobil-Turniers.
Als Hauptgegner der Stuttgarter Kompressorwagen galt Bugatti. Den leichten französischen Rennwagen mit hochdrehendem Motor setzt Mercedes-Benz die Weiterentwicklung des 1927 so erfolgreichen Typ S entgegen. Schon in der Serienversion leistet der Sportwagen 118 kW (160 PS) aus dem 7,1-Liter-Sechszylinder. Mit zugeschaltetem Kompressor sind es 147 kW (200 PS) bei 3.300 U/min.
„Super-Sport“
Gegenüber dem Motor des Typ S haben die Mercedes-Benz Ingenieure die Bohrung um zwei Millimeter vergrößert und den Ladungswechsel verbessert. Lieferbar ist der Mercedes-Benz Typ SS (das Kürzel steht für das Prädikat „Super-Sport“) zunächst nur als Sport-Viersitzer. Auch im Großen Preis von Deutschland startet die Stuttgarter Marke mit viersitzigen Fahrzeugen, die hintere Sitzbank ist durch eine Abdeckung geschlossen.
Später kommen unter anderem der Spezial-Viersitzer (1929) sowie Spezial-Cabriolet und Roadster (1932) dazu. Der Typ SS ist vor allem als starker und luxuriöser Sportwagen für anspruchsvolle Privatkunden entwickelt worden. Äußerlich erkennbar ist er am Kühler: Dieser besteht aus acht Blöcken und ist 42 Millimeter höher als beim Typ S (sieben Blöcke). Im Jahr 1934 kostet der hoch exklusive Typ SS als Spezial-Cabriolet 44.000 Reichsmark – zehnmal so viel wie die Limousine des Typs 170 (W 15).
Das blaue Gespenst im Training
Der für Sportwagen ausgeschriebene Große Preis von Deutschland auf dem 1927 eröffneten Nürburgring ist eines der wichtigsten europäischen Rennereignisse des Jahres. Insgesamt starten 41 Sportwagen verschiedener Marken. Mercedes-Benz geht mit sechs Fahrzeugen des Typs SS an den Start. Jeweils ein Mechaniker begleitet die Rennfahrer als Kopilot.
Rennfahrer Rudolf Caracciola kennt die Eifelstrecke gut. Er hat im vergangenen Jahr beim Eröffnungsrennen des Nürburgrings auf Anhieb gewonnen. Im Training trifft er nun auf Bugatti, den stärksten Konkurrenten von Mercedes-Benz. Er erinnert sich im Stil einer Reportage: „Der Wagen stürzt in den Raum … schießt die Bergstraße hoch, die kerzengerade in den Himmel zu führen scheint, und stäubt wieder hinunter in das Tal … haut mit einem unverschämten Tempo durch eine Serie von S-Kurven durch […] da erscheint auf einmal neben meinem Wagen ein Gespenst, ein Schatten, ein rasender blauer Schatten.“ Doch Caracciola setzt sich durch: „ Langsam schiebt sich der mächtige weiße Mercedes-Benz nach vorn.“
Sonnenschlacht in der Eifel
Am Tag des Rennens brennt die Sonne vom Himmel – wie überhaupt dieser Sommer extrem heiß ist. „Das Thermometer klettert auf 35 Grad im Schatten“, beschreibt Rennleiter Neubauer die Bedingungen. Caracciola hat Respekt vor seinem Fahrzeug: „Der große, massive Mercedes-Benz SS, der größte und schwerste Rennwagen der damaligen Gegenwart“, so beschreibt er es und ergänzt: „Leicht zu fahren war diese deutsche Eiche von einem Auto nicht.“ Auf historischen Fotografien ist ein schwarzes Lackband quer über den weißen Motorhauben zu erkennen. Es markiert im Großen Preis von Deutschland 1928 Fahrzeuge der Klasse über drei Liter Hubraum (Gruppe 1).
Das Rennen ist 509 Kilometer lang, es besteht aus 18 jeweils 28,27 Kilometer langen Runden über den gesamten Nürburgring (Süd- und Nordschleife). Caracciola steigert kontinuierlich sein Tempo und erreicht 111,6 km/h in der fünften Runde. „Absoluter Rundenrekord. Ich staune Bauklötze über unseren Siebenundzwanzigjährigen“, schreibt Neubauer in seinen Memoiren.
Doch Caracciolas Teamkollege Willy Walb kommt schon in Runde zwei von der Strecke ab, sein Mercedes-Benz stürzt eine Böschung hinab. Der Rennfahrer bleibt unverletzt und macht sich auf den acht Kilometer langen Fußmarsch zurück zur Box. In Runde neun fällt Mercedes-Benz Rennfahrer Christian Werner aus, Sieger des Nürburgring-Eröffnungsrennens 1927 in der Klasse der Rennwagen über zwei Liter Hubraum. Er hat sich die Schulter verletzt. Willy Walb übernimmt Werners Fahrzeug mit der Startnummer 4 und führt das Rennen fort.
Caracciola gibt auf
Als nächsten erwischt es Rudolf Caracciola: In der zwölften Runde muss er aufgeben – mit Brandblasen an den Fußsohlen von den überhitzten Pedalen und Verdacht auf Sonnenstich. Er beschreibt die Strapazen eindringlich: „Tropische Sonnenglut, geblendet, von der Hitze gebraten, durstig, schlapp – dazu das ungeheure Gewicht des Wagens, das in jeder Runde durch 180 Kurven gezwungen werden musste.“ Werner fährt den Typ SS mit der Startnummer 6 trotz lädierter Schulter weiter. Dann übernimmt noch einmal Caracciola für zwei Runden, bevor Werner das Fahrzeug schließlich als Sieger mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 103,9 km/h ins Ziel bringt.
Auf Platz 2 kommt Otto Merz (Durchschnittsgeschwindigkeit 103,3 km/h). Er liegt in der letzten Runde in Führung und verliert die Position wegen eines defekten Reifens nur knapp an seinen Teamkollegen Werner. Das fünfstündige Hitzerennen in der Eifel hat Merz auf dem Mercedes-Benz SS mit der Startnummer 5 alleine durchgestanden.
Den dritten Platz erringt Willy Walb in Christian Werners Wagen mit der Startnummer 4 (Durchschnittsgeschwindigkeit 100,5 km/h). So kommt es, dass Werner in der Bestenliste des Großen Preises von Deutschland 1928 zweimal genannt wird. Den Erfolg der „weißen Elefanten“ machen an diesem Tag Georg Kimpel und Adolf Rosenberger auf Platz 5 komplett.
Insgesamt fallen 31 von 41 gestarteten Fahrzeugen aus. Und was ist mit Bugatti, dem großen Konkurrenten des Tages? „Mehr als eine Viertelstunde vergeht, bevor der Bugatti des Herrn Chiron in Sicht kommt“, erinnert sich Alfred Neubauer an den Abstand des Sechstplatzierten auf das Siegerfahrzeug von Christian Werner beim Zieleinlauf.
Die offizielle Premiere des Mercedes-Benz SS ist ein sensationeller Erfolg für den „Super-Sport“. Noch größeren Anteil an den Rennsportsiegen der Stuttgarter Marke Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre hat der weiterentwickelte und mit kürzerem Rahmen versehene SSK („Super-Sport-Kurz“). Er erlebt sein Debüt am 29. Juli 1928 im neunten Gabelbach-Bergrennen bei Bad Ilmenau in Thüringen. Der Sieger bei den Sportwagen mit neuem Streckenrekord: Rudolf Caracciola.
Bilder/Quelle: Daimler AG