Sachsen! Wer an Sachsen denkt, dem kommt vermutlich zunächst der meines Erachtens ungerechtfertigterweise als unattraktivster eingestufte deutsche Dialekt in den Sinn. Doch das, lieber Leser (trotz generischem Maskulinum dürfen sich auch die Damen angesprochen fühlen), wird weder dem Land, noch den Leuten gerecht, denn dieses Fleckchen Erde bietet eine ganze Menge mehr.
Das durften die Teilnehmer der 11. Sachsen Classic auch in diesem Jahr buchstäblich erfahren. Diese, von der Motor Presse Stuttgart alljährlich ausgetragene, Veranstaltung führt mitten durch das Herz des Freistaates und ist als Gleichmäßigkeits- und Zuverlässigkeitsprüfung für historische Fahrzeuge ausgelegt, die ihre Wirkung auf die Einwohner nicht verfehlt. Es erweckt sich der Eindruck, daß die Veranstaltung bei den Sachsen zum festen Repertoire ihrer Freizeitgestaltung zählt, denn anders läßt sich die zum Teil überwältigende Resonanz an den Straßen, den Durchfahrtskontrollen und den Sammelpunkten kaum erklären. Offenbar Frucht einer wuchtigen Marketingkampagne verbunden mit einer großen Bereitschaft der Bevölkerung, dieser bereitwillig zu folgen.
Da nimmt es nicht Wunder, daß auch Mercedes-Benz Classic an dieser Begeisterung partizipieren und sich möglichst eindrucksvoll präsentieren möchte. Was liegt da näher, als sich mit zwei der beliebtesten Stücke aus der werkseigenen Sammlung an der Rallye zu beteiligen, welche für die recht langen Tagesetappen wohlgewählt wurden.
Da wäre zum einen der in der Publikumsgunst dauergeliebte 300 SL Roadster der Baureihe W 198 II, der 215 muntere Pferdchen aus seinen 3 Litern Hubraum mobilisiert, um den immer noch hinreißend schönen Wagen auf gute 250 km/h zu treiben. Zum anderen bot das Team der Classic-Abteilung ein weiteres Kraftpaket auf: den mythischen 300 SEL 6.3 der Baureihe W 109! Einst als schnellste Serienlimousine der Welt propagiert, hielt sie sich auf den Tagesetappen vornehm zurück und bestach ausschließlich durch ihre zeitlose, von Paul Bracq verpaßte, Eleganz. Obwohl die 250 Pferdestärken, aus 6332 Kubikzentimetern geschöpft, verbunden mit dadurch bereitgestellten 500 Nm das Dickschiff auf unglaubliche 221 km/h zu beschleunigen vermögen. Doch Understatement steht dem ehemaligen Flaggschiff der einstigen Daimler-Benz AG ausgesprochen gut zu Gesicht.
Geentert wurden die beiden Klassiker, gebaut in den Jahren 1957 und 1969, von Andreas Renschler/Stefan Mangold und Joachim Ersing/Carsten Dietmann. Andreas Renschler, Vorstandsmitglied und verantwortlich für Produktion und Einkauf Mercedes-Benz Cars sowie das gesamte Geschäftsfeld Mercedes-Benz Vans, gab sich auf der Straße locker vertraut mit dem Roadster und zeigte sichtlich vergnügt dem ein oder anderen Teilnehmer der Gleichmäßigkeitsfahrt selbstbewußt das rundliche Heck des 300 SL. Sein Beifahrer Stefan Mangold, Clubdirektor des Robinson Clubs Fleesensee, nahm dies nicht weniger freudig zur Kenntnis, obgleich er überwiegend ins Studium des Roadbooks vertieft war, um ein lästiges Verfahren der “Jungs” zu vermeiden. Joachim Ersing hingegen, Direktor der Mercedes-Benz-Niederlassung in Dresden, übte sich in stilvollem Dahingleiten mit dem “6.3er”. Beifahrer Carsten Dietmann, Geschäftsführer der Dresdner Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG, gefiel die Fahrt im Wagen so gut, daß er am letzten Rallye-Tag selbst am Volant des Kraftpakets majestätisch drehen durfte. Wie sagen die Amerikaner doch gerne: Big toys for big boys!
Doch jetzt geht es auf die Strecke. Am ersten Tag stand die Etappe “Sachsenring” an. Um 13:01 Uhr rollte das erste Fahrzeug über die auf dem Hauptmarkt in Zwickau errichtete Startrampe. Durch den späten Start fiel diese Etappe entsprechend kurz aus. Lediglich 127,21 km galt es in vier Stunden zu bewältigen. Es dauerte, bis sich die von Oldtimern und Besuchern geflutete Zwickauer Innenstadt allmählich leerte. Bei schönstem Sommerwetter zeigten sich nicht nur die Fahrzeuge, sondern auch die Einwohner von ihrer besten und gutgelauntesten Seite.
Ein absoluter Höhepunkt des angepeilten Abschnitts bildete die Steile Wand von Meerane. Meerane, einst das Zentrum der Textilindustrie, verwandelte sich an diesem Nachmittag und bei hohen Temperaturen in eine Herausforderung für Mensch und Maschine, wobei der Schwerpunkt auf der Maschine liegt. Die beiden Wertungsprüfungen für den Menschen waren mit Sicherheit weniger anstrengend. Zwar meisterten sowohl der 300 SL als auch der 300 SEL 6.3 die 248 Meter lange Strecke ziemlich souverän, doch die 12%-ige Steigung machte vor allem den schwächer motorisierten Teilnehmern sichtlich zu schaffen. Das Kopfsteinpflaster tat sein übriges, um das Material zusätzlich zu belasten. Trotzdem war es ein sehenswertes Ereignis, das wiederum von zahlreichen Zuschauern goutiert wurde.
Weiter ging es über Glauchau und das Bergbaumuseum in Oelsnitz zum Sachsenring. Dort bekamen die Veteranen ungehinderten Auslauf. Kein Gegenverkehr, keine Verkehrszeichen oder sonstige Hindernisse schränkten den Fahrgenuß unnötig ein. Nach gut einer Stunde hieß es Abschied nehmen von den Gedanken einer Rennfahrerkarriere und sich wieder dem zivilen Verkehr zuwenden, der wiederum an den Ausgangspunkt der Tagesetappe, den Hauptmarkt in Zwickau, zurückführte.
Tag zwei – die Etappe “Vogtland” steht an. 261,19 km mehr wird der Tachometer eines jeden Autos am Abend ausweisen. Dementsprechend früh geht es vom Zwickauer Hauptmarkt aus auf Tour durch den Freistaat Sachsen. Erste Station ist das Städtchen Greiz mit herrlichem Blick auf das erhaben angesiedelte Schloß. Sogar eine Verbindung vom Teilnehmerfeld zum Gastgeberort gibt es, denn im Tross pilotiert ein Teilnehmer einen 1926 in Greiz von der FREIA AG gebauten Freia S3, der nicht minder oft vom Publikum teils neugierig, teils begeistert fotografiert wurde, wie der 300 SL oder der 300 SEL 6.3.
Eine ausgesprochene Sehenswürdigkeit und eine malerische Fotokulisse wäre der über 150 Jahre alte und aus über 26 Mio. Ziegelsteinen in nur fünf Jahren erbaute Göltzschtalviadukt gewesen. Leider war die Straße zu dieser einmaligen Eisenbahnbrücke gesperrt, so daß das Feld direkt über das Oelsnitzer Schloß Voigtsberg zur Mittagsrast ins Kurhaus nach Bad Elster weiterfuhr. Das 1888/90 von Landbaumeister Trobsch aus Zwickau errichtete Königliche Kurhaus erinnert mit seiner filigranen Fassadengestaltung an einen italienischen Renaissance-Palast und bildete einen perfekten Rahmen für die historischen Fahrzeuge.
Nach dem Mittagessen und der teilweise eigenwilligen Vorstellung der Fahrzeuge durch den Streckensprecher führte die Route weiter über den Klingenthaler Markt und Stollberg bis zum Endpunkt des Tages, das Industriemuseum in Chemnitz. Es ist beinahe unnötig zu erwähnen, daß die Begeisterung bei der Ankunft der Oldtimer auch in der Kreisstadt hohe Wogen schlug.
Zum letzten Gefecht rief die Uhr am nächsten Morgen den ersten Teilnehmer um 08:01 Uhr. Der Zug ließ das Chemnitzer Industriemuseum hinter sich und machte sich auf den Weg zur Erzgebirgsetappe unter dem gestrengen Blick des “Nischel”, dem über 7,10 m hohen (incl. Sockel 13 m!) und 40 Tonnen schweren Karl-Marx-Monument, der zweitgrößte Portraitbüste der Welt.
Auf idyllischen Straßen und Sträßchen ging es über Mittweida und Oederan zur Krone des Erzgebirges, dem Schloß Augustusburg im gleichnamigen Ort, das auf den Kurfürsten August zurückgeht, der das monumentale Bauwerk 1568–1572 errichten ließ. Dort wurde zwar nicht stilecht getafelt, doch ausgiebig zu Mittag gegessen. Nach der Stärkung, wiederum bei bestem Wetter, lotsten die Chinesenzeichen die Piloten zum ehemaligen MZ-Werk nach Zschopau, zum Besucherbergwerk Ehrenfriedersdorf, zum Annaberg-Buchholzer Markt und zum Rundkurs nach Grünhain. Dabei handelte es sich nicht um einen Rundkurs im klassischen Sinne, sondern um eine Wertungsprüfung, bei welcher ein vorher festgelegter öffentlicher Streckenabschnitt mehrmals im Kreis befahren werden mußte.
Bevor sich die Etappe dem Ende zuneigte, stattete die Sachsen Classic Zwönitz einen Besuch ab, um schließlich wieder am Markt in Chemnitz zur Ruhe und Abschluß zu kommen. Der Zieleinlauf ähnelte zeitweise dem Einzug erfolgreicher Gladiatoren, so begeistert und enthusiastisch die ankommenden Teams von den Zuschauern in Empfang genommen wurden.
Der Marktplatz bot ausgelassene Volksfeststimmung und bildete den krönenden Rahmen um eine rundum gelungene Rallye, bei der sich die meisten Teilnehmer einig waren, sich im nächsten Jahr wiederzusehen, um sich erneut Wertungsprüfungen zu unterziehen und sich gegenseitig zu messen. Und die Besatzungen der beiden Mercedes-Benz-Classic-Fahrzeuge? Sie strahlten mit der Sonne um die Wette, als sie, vom Streckensprecher vorgestellt und von den Chemnitzern beklatscht, durch den Ziel-Torbogen zum verdienten Feierabendbier fuhren.
Fotos: Mario De Rosa