Was für ein Überraschungssieg: Der große und trotz zahlreicher Erleichterungsmaßnahmen immer noch schwere Mercedes-Benz SSKL (W 06 RS) mit Rudolf Caracciola am Steuer gilt gegenüber der italienischen Konkurrenz nicht als Favorit bei der fünften Auflage der Mille Miglia am 12. und 13. April 1931. Doch das Team aus Stuttgart bewältigt die 1.635 Kilometer lange Strecke von Brescia nach Rom und zurück schneller als alle Lokalmatadore: Caracciola und sein Beifahrer Wilhelm Sebastian kommen nach 16 Stunden, 10 Minuten und 10 Sekunden ins Ziel. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt 101,6 km/h, allein das ist eine Sensation. Denn kein Fahrer zuvor hat jemals einen Schnitt von mehr als 100 km/h erreicht. Und schließlich ist Caracciola der erste nichtitalienische Fahrer, der die Mille Miglia gewinnt.
Die ursprüngliche Mille Miglia wird von 1927 bis 1957 ausgetragen. Seit 1977 ist sie eine Gleichmäßigkeitsveranstaltung für historische Fahrzeuge und gehört heute als 1000 Miglia zu den weltweit populärsten Events für klassische Automobile. In diesem Jahr ist die 1000 Miglia für die Zeit vom 16. bis 19. Juni 2021 geplant.
Mille Miglia 1931: 151 Teams sind für das Straßenrennen gemeldet. Die Strecke verläuft von Brescia über Parma nach Bologna, von dort über den Apennin nach Florenz und Siena bis Rom. Zurück geht es über Perugia und Macerata an die Adria und über Rimini, Bologna und Verona zurück nach Brescia. Die italienischen Teams haben einen Heimvorteil hinsichtlich der Streckenkenntnis und ebenso der Versorgung. „Die Strecke war mit Ersatzteillagern geradezu gepflastert“, sagt Rudolf Caracciola im Rückblick, „wir dagegen mussten sparen.“ Rennleiter Alfred Neubauer kann lediglich vier Depots entlang der Strecke aufbieten, um die als Privatteam auftretende Mannschaft Caracciola/Sebastian zu unterstützen.
Das Fahrzeug: Offiziell heißt der Rennsportwagen zu diesem Zeitpunkt noch „SSK Modell 1931“. Die Bezeichnung SSKL („Super-Sport-Kurz-Leicht“) trägt das Fahrzeug erst ab 1932. Es wird als viertes und letztes Modell der legendären S-Reihe in nur vier Exemplaren ausschließlich für den Renneinsatz gebaut. Mit großem Aufwand gelingt es dem Team um Entwicklungsvorstand Dr. Hans Nibel, den nicht mehr ganz modernen Rennwagen wettbewerbsfähig zu halten. Mit einem dünnwandigeren Rahmen und zahlreichen Bohrungen wird das Leergewicht um 125 Kilogramm auf 1.352 Kilogramm gesenkt. Auch der Sechszylindermotor mit 7.069 Kubikzentimetern ist gründlich überarbeitet. Mit zugeschaltetem Roots-Kompressor leistet er 221 kW (300 PS). Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 235 km/h.
Der Rennverlauf: Am 12. April 1931 um 15:12 Uhr gehen Caracciola/Sebastian auf die Strecke. Die Straßen sind eng, führen über Pässe, erst gegen Ende des Rennens kann Caracciola über viele Kilometer hinweg mit Vollgas fahren. Es ist eine große Leistung für den eher schmächtigen Rennfahrer, den schweren Mercedes-Benz schnell und scheinbar mühelos zu bewegen. Er selbst sagt: „Sechzehn Stunden lang saß ich am Lenkrad, sechzehn Stunden lang donnerten wir längs und quer durch Italien, tasteten uns am Strahlenbündel der Scheinwerfer durch die Nacht, fuhren hinein in das blendende Licht des Frühlingsmorgens, … sechzehn Stunden lang hatte ich im Riesenfeld von mehreren hundert Wagen keine Ahnung, wie ich lag.“ Zur Rückkehr nach Brescia sagt Caracciola: „Im Ziel ist Alfred Neubauer völlig aus dem Häuschen, führte einen völlig verrückten Tanz auf. Was war hier eigentlich los? Ich begriff es zuerst nicht, noch nicht, aber langsam dämmerte es mir: Ich hatte die tausend Meilen gewonnen.“ Hinter ihm folgen 31 Fahrzeuge italienischer Herkunft, bevor es mit einem Graham-Paige auf Platz 32 weitergeht.
Schwieriges Jahr 1931: Der Zusammenbruch der Börse in New York im Oktober 1929 hat dramatische Folgen für die Weltwirtschaft, auch die Automobilindustrie. In Deutschland fällt die Fahrzeugproduktion von 139.869 Fahrzeugen im Jahr 1929 auf 88.435 Fahrzeuge im Jahr danach und auf 64.377 Einheiten 1931. Der Umsatz der damaligen Daimler-Benz AG sinkt ebenfalls um rund die Hälfte auf 68,8 Millionen RM. Der Vorstand handelt: Mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage stoppt er 1930 die Entwicklung des neuen „Rennwagens Modell 1931“. Trotz der gewonnenen Europa-Bergmeisterschaft 1930 erhält Werksfahrer Caracciola die Kündigung. Rennleiter Alfred Neubauer gelingt es jedoch, mit ihm eine Vereinbarung zu treffen, die eine Werksunterstützung in geringem Umfang und die Bereitstellung eines SSKL vorsieht. Caracciola verpflichtet sich im Gegenzug, „im Sportjahr 1931 bei Rennen und sportlichen Veranstaltungen ausschließlich für Daimler-Benz tätig zu sein“. Das Programm 1931 fällt kleiner aus als geplant, führt aber dennoch bei elf Starts zu elf Siegen sowie zur Verteidigung des Titels „Europa-Bergmeister“.
Rudolf Caracciola: Der Werksfahrer von Mercedes-Benz ist der Star der ersten Silberpfeil-Epoche in den 1930er-Jahren. 1935, 1937 und 1938 wird er Grand-Prix-Europameister. Dieser Titel ist vom sportlichen Rang her vergleichbar mit der seit 1950 bestehenden Formel-1-Weltmeisterschaft. Außerdem wird er drei Mal Europa-Bergmeister auf Mercedes-Benz. Caracciola wird am 30. Januar 1901 in Remagen geboren und stirbt am 28. September 1959 im Alter von nur 58 Jahren.
Tausend italienische Meilen: Einen Mille-Miglia-Rekord für die Ewigkeit halten Stirling Moss und Denis Jenkinson. Mit ihrem Mercedes-Benz 300 SLR (W 196 S) legen sie das berühmte Straßenrennen 1955 in 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden zurück. Ihr Durchschnittstempo von 157,65 km/h wird seitdem nicht mehr überboten. 1957 ist das letzte Austragungsjahr der ursprünglichen Mille Miglia als Straßenrennen. Mehrere schwere Unfälle führen zum Stopp. 20 Jahre später erlebt sie als Gleichmäßigkeitsveranstaltung ihre Wiederauferstehung und erfreut sich seitdem größter Beliebtheit bei Teilnehmern wie Publikum. Startberechtigt sind Fahrzeuge, deren Typ bei der ursprünglichen Mille Miglia zwischen 1927 und 1957 teilgenommen hat. Zur heutigen 1000 Miglia starten meist mehr als 400 historische Fahrzeuge, und viele Hunderttausend Zuschauer verfolgen das Feld entlang der Strecke. Mercedes-Benz unterstützt die Veranstaltung als Global-Automotive-Partner regelmäßig mit dem Einsatz berühmter Klassiker und bekannter Rennfahrer.
Im Spiegel der Presse: In Ausgabe 9/1931 kommentiert die renommierte „Allgemeine Automobil-Zeitung“ Caracciolas Erfolg im Duktus der damaligen Zeit: „In reichsdeutschen Blättern haben wir von einem Erfolg der Deutschen Automobil-Industrie gelesen. Mit Verlaub, wir sind der Meinung, dass man da nicht generalisieren soll. Es war ein Erfolg von Mercedes-Benz, den man nicht auf die deutsche Automobil-Industrie aufteilen darf, denn außer Mercedes-Benz gibt es in ganz Deutschland keine Automobilmarke, die sich an einem großen internationalen Rennen beteiligen könnte. […] Man mag über die Rennen denken, wie man will, so bedeuten sie für die siegreiche Marke immer noch die beste Reklame, die wenige Stunden nach dem Rennen sich über die ganze Welt verbreitet.“
Quelle: Daimler AG