Sie nannten ihn Tausendfüßler: der LP 333

Er ist ein Fahrzeug nach Maß: Als schlagfertige Antwort auf 1958 eingeführte Restriktionen bei Maßen und Gewichten zeichnet sich der dreiachsige 16-Tonner LP 333 durch ein Maximum an Nutzlast aus. Und verhilft obendrein dem Frontlenkerprinzip zum Durchbruch.
Dieses Fahrzeug steht wie kein zweiter Lkw für den Übergang vom leicht anarchischen Transportwesen der Nachkriegszeit hin zu einem stetig straffer strukturierten Transportwesen, das heute unter dem Sammelbegriff Logistik längst eine Wissenschaft für sich geworden ist. Als Lkw nach Maß, der das Beste aus den gegebenen Rahmenbedi ngungen macht, steht der LP 333 mit dem Novum zweier gelenkter Vorderachsen Pate für viele weitere Speziallösungen ab Werk, wie sie beim Lkw von heute gang und gäbe sind.
Freilich waren die Mittel damals noch etwas begrenzt, und die Erfahrungen mit der neuen Kabinenkategorie Frontlenker stehen noch ganz am Anfang. Nur eine schmale Stufe, in luftiger Höhe vor der Vorderachse postiert, muss zum Beispiel als Steighilfe hinein in die gute Stube reichen. Da heißt es für den Fahrer die Arme lang machen und mit trickreicher Verwindung den eigenen Körperschwerpunkt in die Höhe hieven. Eine einfache Übung ist schon das Einsteigen nicht. Beim Au ssteigen herrschen nochmals verschärfte Bedingungen.
Doch hat der Pilot erst einmal hinterm vierspeichigen Volant Platz genommen, verwöhnt ihn der LP 333 mit geradezu traumhaftem Fahrkomfort. Auch gröberes pistenbedingtes Ungemach steckt ein mit zwei Vorderachsen gesegneter Lkw wie der LP 333 stoisch weg. Für den Fahrer springt dabei hoher Fahrkomfort heraus. Manch ein Sattelzugpilot von heute wäre froh um solch fabelhaften Federungskomfort. Und auch am Lenkverhalten gäbe es für die verwöhnten Fahrer von heute nichts zu kritteln.
Allerdings wölbt sich der Motortunnel gewaltig ins Fahrerhaus hinein. Und dämmt den Schall des 192 bis 200 PS starken Vorkammermotors doch nur zaghaft. Dieser elf Liter große Reihensechszylinder bringt sich schon bei Standgas mit kernigem Schlag zu Gehör. Für ein Zuggesamtgewicht von 32 Tonnen ist dieses Fahrzeug ausgelegt und erfüllt die seinerseits erhobene Forderung nach mindestens sechs PS pro Tonne mit Bravour.
Tuchfühlung mit dem Motor und seinem Puls – das ist der Preis, der damals für das kompakt bauende, ansonsten aber hochmoderne Konzept des Frontlenkers zu zahlen ist. Mit dem Herzen des Lkw ist der Fahrer im LP 333 eben auf Du und Du. Zum Kontrollieren des Ölstands oder für Arbeiten am Motor hat der Motortunnel zudem kipp- und demontierbar zu sein, da diese Kabine noch starr montiert ist.
Radikal wird die Lastzuglänge beschnitten
Überhaupt fasst der Frontlenker erst langsam im Lauf der 50er-Jahre auf deutschem Pflaster Fuß. Erst anno 1958 beschert eine radikale Beschneidung der möglichen Lastzuglänge diesem Bauprinzip einen plötzlichen Aufschwung. Es ist aber beileibe nicht nur der Verzicht auf die heute fast ganz aus dem Straßenbild verschwundene Motorhaube, womi t der LP 333 sich als sehr moderner Vertreter seiner Zunft erweist. Die Einscheiben-Trockenkupplung zum Beispiel erfordert erstaunlich geringe Pedalkräfte. Fürs Kurbeln am fast waagrecht liegenden Vierspeichen-Volant in elfenbeinerner Couleur genügt schon wenig Armschmalz.
Nostalgie stellt sich beim Blick auf die Instrumente ein: Ton in Ton mit diesem sind die vielen Knöpfe auf der Instrumententafel gehalten, die es beim Betätigen – wie die Register einer Orgel – zu ziehen gilt. Dass die Zeiten andere sind und auch die Uhren noch nicht im heutigen Tempo laufen, zeigt das Rundinstrument mit den Kontrollanzeigen für Wasser, Brems- und Öldruck: Wie’s um den Öldruck bestellt ist, bemisst sich im LP 333 noch nach kg/cm3.
Immerhin verfügen die Armaturen des LP 333 bereits übe r mehrere Kontrollleuchten. Die originellste dürfte der sputnikartige, lanzenförmige Abschluss des linkerhand angebrachten Blinkerhebels sein, der wacker rötlich blinkt, sobald der Fahrtrichtungsanzeiger aktiviert ist. Die modernste (und mittlerweile für Lkw mit einfachbereifter Hinterachse wieder ins Gespräch gekommene) Einrichtung dürfte jene gelbe Lampe links unten in der Instrumententafel sein, die bei mangelndem Fülldruck der Reifen anspricht. Doch liegen zwischen der simplen mechanischen Lösung von damals und den elektronischen Systemen von heute freilich Welten.
Zu Zeiten des LP 333 ist eine Federspeicherbremse als Organ zum Feststellen des Lkw obendrein noch keineswegs üblich. So ragt knapp an der linken Flanke des Motortunnels eben noch die klassische Ratschenbremse schräg empor, die ein paar Mal gezogen sein will und ihrem Namen entsprechend Laut gibt, bevor sie dem Gefährt sicheren Halt im Stand verschafft. Zum Lösen genügt ein Druck des Handballens auf die kleine, dafür vorgesehene Querstrebe, um die Bremsbacken der Antriebsachse, auf die die Handbremse wirkt, wieder in Hab-Acht-Stellung zurückzuführen.
Doch hält mit der serienmäßigen Motorbremse ein weiteres Bremssystem im LP 333 Einzug, das heute aus dem Lkw nicht mehr wegzudenken ist. Die Rede i st von einer Auspuffklappe, die riegelnderweise einen Stau im Abgastrakt erzeugt und so per gehemmten Lauf der Kolben dem Fahrzeug bei Bergabfahrt wohltuend in die Speichen greift. Der entsprechende Knopf lugt vor dem Fahrersitz aus dem Kabinenboden empor und ist mit dem Absatz zu aktivieren. Der Begriff „Hackenbremse” bürgert sich schnell ein.
„Tausendfüßler” hingegen ist der Spitzname, den die Zeitgenossen dem LP 333 mit seinen zwei gelenkten Vorderachsen geben. Diese Konstruktion, zumal im Verein mit dem unschuldig dreinblickenden, rundlich geformten Frontle nkerfahrerhaus, verleiht dem LP 333 die sympathische Anmutung eines putzigen Krabbelwesens. Entsprechend hoch ist seine Popularität bei der Bevölkerung. Den launigen Kosenamen hat der Dreiachser bald weg.
Geboren ist das außergewöhnliche Konzept des LP 333 aber aus blanker Not. Denn Verkehrsminister Seebohm, der seit 1949 im Amt ist und diesen Posten noch bis 1966 bekleiden soll, hat im Lauf der Zeit eine zunehmend tiefe Skepsis gegenüber dem wachsenden Lkw-Verkehr in den 50er-Jahren gefasst. Ausdruck gibt er seinem Unmut in Gestalt einer Reihe von Verordnungen, die das Fuhrgewerbe als deftige Restriktionen empfindet.
Den Auftakt macht das Verbot eines zweiten Anhängers anno 1953, der bisher Usus war. Da mit einher geht die Verkürzung der zulässigen Gesamtlänge eines Lastzugs von vorher 22 Meter auf nunmehr 20.
Ein im Jahr darauf folgendes Straßentransportverbot für ungefähr 45 Prozent aller bis dahin per Lkw beförderter Güter sowie eine saftige Erhöhung der Kraftfahrzeug- und Mineralölsteuer machen das Maß aber beileibe noch nicht voll.
Fürs Transportgewerbe bricht fast eine Welt zusammen, als Seebohm im Jahr 1956 schließlich die StVZO (Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung) novelliert und darin festschreibt, dass ab 1958 das zulässige Gesamtgewicht eines Lastzugs von 40 auf 24 Tonnen und dessen maximale Länge von 20 auf 14 Meter zurückzudrehen seien. Für den Anhänger soll fortan gelten: Er darf maximal so schwer sein wie der Motorwagen. Für die vorher wie nachher in Deutschland so beliebte Kombination von zweiachsigem Motorwagen (16 Tonnen) mit Dreiachshänger (24 Tonnen) bedeutet dies das Aus. Es ist zudem im Rahmen eines ins Auge gefassten „ Straßenentlastungsgesetzes“ die Rede davon, für 45 Prozent des Transportvolumens auf der Straße ein Beförderungsverbot auszusprechen, die Konzessionen um 25 Prozent zu kappen und ein Tarifgefälle zu Gunsten der Bahn zu errichten.
Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird
Dass es am Ende Ende zwar dicke genug, aber doch nicht ganz so übel kommt, hat ausgerechnet mit der Gründung der EWG und der europäischen Harmonisierung im Rahmen der Römischen Verträge von 1957 zu tun. Die deutschen Transportunternehmer gehören so gesehen zu den ersten, die vom europäischen Gedanken profitieren.
Gewisse Schlupflöcher lassen die neuen Vorschriften ohnehin, denn es gibt ein reichlich komplexes Werk an Übergangsregelungen. Das macht sich der neue LP 333 konsequent zunutze, um seinem Käufer eben auch unter solch extrem restriktiven Rahmen bedingungen ein Maximum an Nutzlast und Produktivität anzudienen.
Den möglichen Spielraum nutzt der LP 333 intelligent. Weitaus leichter als ein Dreiachser mit doppelter Hinterachse baut der LP 333 mit seinen zwei gelenkten Vorderachsen mit jeweils vier Tonnen Tragkraft. Einen 16 Tonnen schweren Anhänger im Schlepp, rettet der LP 333 dem Kunden als 32 Tonnen schwerer Zug immerhin eine Nutzlast von gut 20 Tonnen. Zum Vergleich: Mit den üblichen zweiachsigen Motorwagen wären auch im Hängerbetrieb kaum mehr als 15 Tonnen Nutzlast möglich.
Jedoch hat die solchermaßen oktroyierte Knebelung des Lkw-Transports keinen langen Bestand. Der Spuk dieser deutschen Insellösung (vergleichbare Restriktionen sind in ganz Europa nicht zu finden, weswegen Mercedes-Benz für den Export parallel zum LP 333 weiterhin schwere Zweiacher fertigt) geht am Ende rasch vorüber. Bereits 1960 lockert Minister Seebohm manche Vorschriften schon wieder und macht bei den maximal zulässigen Gewichten und Maßen wieder erhebliche Zugeständnisse.
Obwohl der LP 333 sein Konzept sehr speziellen Umständen verdankt, weist gerade seine besondere dreiachsige Bauweise unterm Strich dann weit in die Zukunft. Die vom Tausendfüßler abgeleitete, ebenfalls dreiachsige Sattelzugmaschine LPS 333 nämlich stand Modell für den 1966 vorgestellten, äußerst erfolgreichen Sattelzugmaschinentyp LPS 2020, der dank gelenkter Vorlaufachse beste Fahreigenschaften und geringsten Reifenverschleiß optimal unter einen Hut bringt.
Kräftiger Gegenwind bläst ins Gesicht
Der Lkw hat’s generell ein wenig schwer in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre. Minister Seebohm hat zwar nic ht alle, aber einige Schikanen durchgesetzt. Dazu zählen zum Beispiel stark in die Höhe geschraubte Steuern für Schwer-Lkw und Diesel. 1,5 Milliarden aus den so requirierten Summen will er der verlustträchtigen Bahn zuschanzen, die mit der potenten Konkurrenz nicht klarkommt. Seit März 1956 gibt es zudem ein Sonntagsfahrverbot, für den Werkverkehr ist eine neue Beförderungssteuer eingeführt.
Für die Lkw-Konjunktur ist all dies pures Gift. Nur eine Randfigur profitiert dabei: der Sattelzug. Bei Achslasten von gene rell maximal acht Tonnen kann er den gestutzten Hängerzügen wieder Paroli bieten. Zumal er seine steuerliche Erblast los ist, die noch auf die Vorkriegsjahre zurückgeht.
Indes rudert die Politik bald wieder zurück. Ab 1960 sind schon wieder 32 Tonnen Zuggesamtgewicht erlaubt, ab 1965 werden daraus 38 Tonnen. Für den LP 333 bedeutet dies ein schnelles Ende. Zweiachsige 16-Tonner lösen den LP 333 ab. 1961 rollt er noch in 354 Exemplaren vom Band, und dann ist Schluss. Insgesamt kommt er als deutscher Sonderfall und bemerkenswerter Lkw nach Maß auf eine Produktionszahl von 1833 Einheiten.
Quelle: Daimler AG
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martin
6 Jahre zuvor

Sehr schöner Bericht.
Vielen Dank an Markus und die anderen Redakteure , das wir auch solche Artikel mit extrem schönen (Detail) Bildern zu sehen bekommen und lesen dürfen , die vermutlich nicht dem Mainstream hier im Blog entsprechen.
Wenn es nach mir geht: bitte jede Woche so einen Artikel mit LKW Produkten aus lange vergangenen Zeiten.

Fahed
6 Jahre zuvor

Wirklich ein Traum! Solche Gefährde strotzen noch vor Zuverlässigkeit. Ein Wert, der heutzutage nicht mehr selbstverständlich ist. Umso schöner, wenn solche Modelle noch auf den Strassen unterwegs sind. Von meiner Seite aus auch gern mehr solcher Artikel!

mehrzehdes
6 Jahre zuvor

korrekt. lese ich auch gerne. tolle fotos auch. das interieur der alten lkw ist richtig schön, plastikwüsten gab es erst später.

Denny
6 Jahre zuvor

Sehr schöner Artikel und natürlich auch sehr schönes Fahrzeug!
Zu dieser Zeit war Qualität noch wichtiger als Quantität.