Mit dem DRIVE PILOT bietet Mercedes-Benz zukünftig in der S-Klasse sowie im EQS Modell das erste System für hochautomatisiertes Fahren nach SAE Level 3 an. Wir haben uns vom Fahrersitz aus mit der nächsten Stufe des automatisierten Fahrens auf der Autobahn in Berlin fahren lassen.
DRIVE PILOT zuerst für den deutschen Markt – Preise bekannt
Mit dem DRIVE PILOT hat Mercedes-Benz als weltweit erstes Automobilunternehmen im Dezember 2021 die anspruchsvollen gesetzlichen Anforderungen der internationalen UN.R157 Regelung für Level-3 Systeme erfüllt, die ein hochautomatisiertes Fahren ermöglicht. Kurz vor der Serieneinführung konnten wir das System – nach bereits mehreren Stunden auf abgesperrten Gelände auf dem Mercedes Testgelände in Immendingen – erstmals auf öffentlicher Strecke selbst erfahren. Oder besser gesagt: wir haben uns fahren lassen. Zumindest da, wo die Rahmenbedingungen das auch zugelasse haben: auf der Autobahn bis maximal 60 km/h.
Die Bestellfreigabe für den DRIVE PILOT erfolgt zum 17. Mai 2022 und liegt bei der S-Klasse aufbauend zum Fahrassistenz-Paket Plus bei zusätzlichen 5.950 Euro inkl. MwSt. – beim EQS liegt der Aufpreis aufgrund des notwendigen zusätzlichen Fahrassistent-Paket Plus in der Summe bei 8.841,70 Euro. Die Verkaufsfreigabe in den USA soll noch bis Dezember 2022 erfolgen.
System nur in bestimmten Nutzungsfenstern aktivierbar
Mit der Aktivierung des Systems gibt der Fahrer die Verantwortung der Fahraufgabe an sein Fahrzeug ab – und damit auch die Haftung, welche auf den Hersteller übergeht. Genau deshalb sind die Nutzungsfenster für das System vorerst ausschließlich auf Autobahnen vorgesehen und zudem nur bei Tageslicht. Das System arbeitet weder bei Dunkelheit noch bei feuchter Straße, aber auch nicht in Tunneln sowie Baustellen und auch nur bei Temperaturen über drei Grad Celsius. Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben ist die Geschwindigkeit auf 60 km/h beschränkt, so dass das System im Moment vor allem nur bei Staus und dichtem Verkehr eingesetzt werden kann.
Für die Nutzung der automatisierten Fahrfunktion übernimmt das SAE-Level 3 System bestimmte Fahraufgaben selbstständig, ein Fahrer ist aber trotzdem weiterhin erforderlich. Dieser muss jederzeit bereit sein, die Kontrolle über das Fahrzeug zu übernommen, wenn er vom Fahrzeug zum Eingreifen aufgefordert wird.
Der DRIVE PILOT kommt zunächst in Deutschland und ist auf 13.191 Autobahnkilometern freigegeben. Mit der optionalen Ausstattung wird dabei ein radikaler Paradigmentwechsel eingeleitet, der es dem Fahrzeug erlaubt, unter bestimmten Bedingungen die dynamische Fahraufnahme vollständig zu übernehmen. Also: mehr Zeit für den Fahrer, am Fahrersitz zu entspannen und sich anderen Tätigkeiten zu widmen. Die wertvoll zurückgewonnene Zeit kann dazu z.B. für Internet-surfen, Film schauen oder E-Mails am Mobiltelefon investiert werden.
DRIVE PILOT baut auf Fahrassistenz-Paket auf
Das DRIVE PILOT System baut auf die Umfeldsensorik des Fahrassistenz-Pakets auf und umfasst zusätzliche Sensoren, die Mercedes-Benz für ein sicheres, hochautomatisiertes Fahren für unverzichtbar hält. Dazu gehören LiDAR (120 Grad Öffnungswinkel), eine Kamera in der Heckscheibe mit 50 Grad Öffnungswinkel und Mikrofone, insbesondere zum Erkennen von Blaulicht und anderen Sondersignalen von Einsatzfahrzeugen. Außerdem ist ein Nässesensor im Radkasten verbaut. Die S-Klasse mit optionalem DRIVE PILOT verfügt zudem über redundante Lenk- und Bremssysteme sowie ein redundantes Bordnetz, um auch beim Ausfall eines dieser Systeme manövrierfähig zu bleiben und eine sichere Übergabe an den Fahrer zu gewährleisten.
Neben den zusätzlichen Sensoren wird zusätzlich die Stereo-Multi-Purpose-Kamera (mit 70 Grad Öffnungswinkel) genutzt, wie der Fernbereichsradar (90 Grad Öffnungswinkel) und der vierfache Multi-Mode Radar (130 Grad Öffnungswinkel).
Sicherheit bleibt oberste Priorität
Oberste Priorität bei der Einführung eines solchen Systems hat für Mercedes-Benz die Sicherheit, die hohe Anforderungen an die Betriebssicherheit beinhaltet. Der exakte Standort der S-Klasse wird über ein hochpräzises Positionierungssystem ermittelt, das wesentlich leistungsfähiger ist als herkömmliche GPS-Systeme. Zusätzlich werden die Daten aus der Satellitennavigation mit Sensordaten und Daten aus einer HD Karte abgeglichen. Die von LiDAR-, Kamera-, Radar- und Ultraschallsensoren erfassten Daten können zum Beispiel Informationen über die Straßengeometrie, Streckeneigenschaften, Markierungen oder Verkehrszeichen enthalten.
System nutzt Sensor- und Kartendaten
Ergänzend zu den Sensordaten erhält der DRIVE PILOT Informationen zu Straßengeometrie, Streckeneigenschaften, Verkehrszeichen und besonderen Verkehrsereignissen (z.B. Unfälle oder Baustellen) von einer digitalen HD-Karte, die ein dreidimensionales Straßen- und Umgebungsbild liefert. Die Kartendaten werden in Backend-Rechenzentren gespeichert und ständig aktualisiert. Jedes Fahrzeug speichert auch ein Abbild dieser Karteninformationen an Bord, vergleicht sie ständig mit den Backend-Daten und aktualisiert gegebenenfalls den lokalen Datensatz. Die HD-Karte bietet somit eine stabile Positionierung durch eine von Faktoren wie Schatten oder verschmutztem Sensor unabhängige Darstellung der Umgebung. Diese hochpräzise Karte unterscheidet sich von Karten für Navigationsgeräte unter anderem durch ihre höhere Genauigkeit im Zentimeter- statt im Meterbereich und ihr detailliertes Kreuzungs- und Streckenmodell.
Ein leistungsfähiges zentrales Steuergerät stellt die notwendigen anspruchsvollen Softwarefunktionen für das hochautomatisierte Fahren bereit. Im Rahmen einer modernen Sicherheitsarchitektur werden wichtige Algorithmen redundant berechnet.
Optisch bleibt eine S-Klasse oder EQS-Modell mit DRIVE PILOT Ausstattung eher unauffällig und ist lediglich am LiDAR-Sensor an der Front- oder durch ein Antennenmodul am Heck als ein solches erkennbar. Selbst die zusätzliche Heckkamera in der Scheibe fällt nicht auf. Im Innenraum zeigt sich das System lediglich durch spezielle Bedienelemente mit LED-Funktionsanzeigen im oberen Lenkradbereich.
Fahrtest im DRIVE PILOT in Berlin
Aktiviert wird der DRIVE PILOT bequem über eine Lenkradtaste, woraufhin das Fahrzeug selbstständig die Geschwindigkeit, den Abstand zum Vordermann und das Halten der Spur regelt. Selbst Ausweichmanöver innerhalb der Spur absolviert das System, wobei autonome Spurwechsel aktuell gesetzlich noch nicht erlaubt sind.
Bei unserer Testfahrt nutzten wir eine Teilstrecke der Autobahn A 100 rund um die Hauptstadt Berlin, die eigentlich täglich durchaus lebhaft befahren und ein häufiger Staupunkt ist. Wir fuhren unter anderem entlang des Messedamms vorbei am ICC Messezentrum Richtung Dresden und erwischten einen idealen Zeitpunkt, um den dort entstandenen Stau sinnvoll mit einigen Minuten Internet-Surfen zu verbringen. Der DRIVE PILOT ließ sich dazu problemlos über die Tasten am Lenkrad aktivieren, wobei uns die Funktionsbereitschaft über ein entsprechendes „A“ Symbol am Display sowie über weiße LEDs am Lenkrad angezeigt wurde. Das System hat dazu bereits auf die notwendigen Bedingungen, wie das Fahren auf einer Autobahn und eine Geschwindigkeit unterhalb 60 km/h geprüft sowie einen entsprechenden notwendigen vorausfahrenden Wagen erkannt.
Nach der Aktivierung durch Tastendruck am Lenkradkranz schalten die LED-Leuchten oberhalb der Taste und hinter dem Lenkrad-Pralltopf auf eine türkise Farbe um und signalisieren die Funktionalität der Übernahme der Fahraufgabe. Parallel wird die Klimaanlage automatisch auf „AUTO“ umgestellt, um beschlagene Scheiben zu verhindern. Bei der Aktivierung muss noch ein textlicher Hinweis mit der linken OK-Taste am Lenkrad bestätigt werden. Danach kann der Fahrer sich vom Fahrgeschehen abwenden und die Hände vom Lenkrad nehmen.
Sobald der DRIVE PILOT aktiviert ist, kann der Fahrer sich problemlos und rechtssicher anderen Tätigkeiten widmen, muss aber jederzeit bereit sein, das Lenkrad auf Aufforderung wieder zu übernehmen. Hierzu muss der Fahrersitz jedoch weiterhin ordentlich besetzt sein, – selbst ein Zurückfahren des Fahrersitzes von mehr als 1.5 Sekunden wird bemerkt damit die Pedale erreichbar bleiben. Zur Übernahme bleiben 10 Sekunden Zeit, bevor das Fahrzeug automatisch bis zum Stillstand heruntergebremst wird.
Vom ersten Moment fühlten wir uns beim Fahren jederzeit sicher und vertrauten dem System gleich auf Anhieb. Der DRIVE PILOT hielt zuverlässig die Spur und auch die Abstände sowie die notwendige Rettungsgasse wurden berücksichtigt. Von rechts auffahrende und einscherende Autos sowie Spurwechsler erkannte unsere S-Klasse problemlos. Beeindruckend wie sanft und gelassen die S-Klasse durch den Berliner Stau fuhr. Das Beschleunigen und Bremsen erfolgte mit maximalem Komfort und war fast kaum noch zu merken und stellt nochmals eine Steigerung in der bereits sehr guten Fahrregelung des bisherigen Abstands-Assistenten dar. Ein tolles erstklassiges Fahrgefühl! Ist das System erst mal aktiviert, sind sonst gesperrte Sachen im Fahrzeug frei nutzbar: ob integrierte Spiele, Fernsehempfang oder Internet – alles nutzbar. Auch In-Car-Office mit Versendung von E-Mails im Fahrzeug oder die Bedienung des Mobiltelefons in der Hand ist so rechtssicher möglich.
Sobald die Bedingungen für die Nutzung des DRIVE PILOT Systems nicht mehr gegeben waren, wurden wir unmissverständlich mittels roter LED-Leuchten und akustischer Warnung zur Übernahme des Fahrzeuges aufgefordert. Endet beispielsweise eine Fahrspur auf Grund einer Baustelle, wird dieses frühzeitig mit einer grafischen Meldung im Kombiinstrument sowie im großen Multimediadisplay angezeigt. Bei einer Tunneleinfahrt wurden wir ebenso zur Übernahme aufgefordert.
Fazit: Entspannt im Verkehr unterwegs
Der DRIVE PILOT macht, was der Hersteller vorab versprochen hat – könnte aber auch noch mehr. So ist die Einschränkung auf maximal 60 km/h im stockenden Verkehr nur eine gesetzliche Einschränkung. Die Technik der Stuttgarter könnte bereits deutlich mehr. Wie man uns versicherte, ist die Weiterentwicklung noch lange noch nicht abgeschlossen.
Mit der neuen Ausstattung kommt man zwar nicht schneller durch den Stau bzw. stockenden Verkehr, man kann sich aber dabei sinnvolleren Aufgaben widmen und gewinnt so wichtige Lebenszeit für andere Dinge, die man sonst erst später erledigen kann. Aber auch ohne Dinge nebenbei zu erledigen kommt man mit dem DRIVE PILOT entspannter an – und das ist wahrer Luxus und passt damit gut in die S-Klasse oder den EQS.
Bilder: © Philipp Deppe / MBpassion.de sowie Mercedes-Benz Group AG