Rudolf Caracciola: „Ein silberner Streifen am Himmel der Rennfahrer“

roße Rennfahrer prägen mit ihren Sporterfolgen immer wieder ganze Epochen. Beispielsweise Rudolf Caracciola: Der Werksfahrer von Mercedes-Benz ist der Star in der ersten Silberpfeilepoche in den 1930er-Jahren. 1935, 1937 und 1938 wird er Grand-Prix-Europameister. Dieser Titel ist vom sportlichen Rang her vergleichbar mit der seit 1950 bestehenden Formel-1-Weltmeisterschaft.

Vor 120 Jahren, am 30. Januar 1901, wird Rudolf Caracciola in Remagen geboren. Viele Erfolge, aber auch manche Tragödie begleiten das Leben des Sportsmanns, der am 28. September 1959 in Kassel im Alter von nur 58 Jahren stirbt.

Lebe deinen Traum: Als Lewis Hamilton am 15. November 2020 nach seinem Sieg beim Großen Preis der Türkei als siebenfacher Weltmeister feststeht, sagt er im ersten Interview nach der Zieldurchfahrt: „Träume das Unmögliche, lebe deinen Traum und gib niemals auf!“ Rudolf Caracciola wählt in seiner 1958 erschienenen Biografie „Meine Welt“ ganz ähnliche Worte: „Ich glaube, dass jeder Mensch alles erreichen kann, was er will. Ich wollte Rennfahrer werden, von meinem vierzehnten Lebensjahr an.“

Meister aller Klassen: Heute sind die Grand-Prix-Piloten Spezialisten, die sich voll und ganz auf Formel-1-Rennen konzentrieren. Bis weit in die 1970er-Jahre hinein war das anders. Formel 1, Formel 2, Sportwagen- und Tourenwagenrennen, Bergrennen und selbst Rallyes füllten die Terminkalender der Stars am Steuer. Auch Rudolf Caracciola, dessen Karriere gleich mehrere Automobil- und Rennwagenepochen begleitet, beweist eine immense Bandbreite des fahrerischen Könnens. Seine ersten Erfolge in den 1920er-Jahren machen die damalige Daimler-Benz AG auf ihn aufmerksam. Er wird Werksfahrer und erhält Fahrzeuge der berühmten S-Reihe. 1929 gewinnt er beispielsweise auf der Isle of Man mit dem Mercedes-Benz Typ SS die „International Tourist Trophy“ über knapp 660 Kilometer. Bei Bergrennen sichert er sich dreimal in Folge den Titel als Europa-Bergmeister: 1930 und 1931 auf Mercedes-Benz (SSK und SSKL) und 1932 auf Alfa Romeo (2,6 Liter Monoposto). Mit dem Typ SSKL holt er sich 1931 als erster ausländischer Rennfahrer den Sieg bei der Mille Miglia. Es folgen die zahlreichen Triumphe in den hochpotenten Grand-Prix-Rennwagen von Mercedes-Benz und Alfa Romeo. Aber es geht noch viel schneller: Am 28. Januar 1938 wird Caracciolas Mercedes-Benz Rekordwagen auf der Autobahn Frankfurt–Heidelberg über den fliegenden Kilometer mit 432,69 km/h gemessen. Erst 79 Jahre später übertrifft am 4. November 2017 ein Koenigsegg Agera RS auf einer Bundesstraße in Nevada/USA diesen absoluten Geschwindigkeitsrekord auf öffentlicher Straße.

Der Regenmeister: Am 11. Juli 1926 stellt die gerade gegründete Daimler-Benz AG für Caracciola einen Mercedes 2-Liter-/8-Zylinder-Rennwagen mit Kompressor für den ersten Großen Preis von Deutschland auf der Berliner Avus bereit. Vor 230.000 Zuschauern fährt dieser als letzter von 38 Teilnehmern los. Im Rennen setzt sintflutartiger Regen ein. Doch Caracciola fährt bis ganz nach vorn und erwirbt sich den Ruf des „Regenmeisters“. Es ist sein Durchbruch zum ganz großen Rennfahrer.

Die Silberpfeile: Mercedes-Benz W 25 heißt 1934 der erste aller Silberpfeile, konstruiert nach der 750-Kilogramm-Formel. Er hat eine Leistung von zunächst 260 kW (354 PS) und später bis 363 kW (494 PS). Mit einer Höchstgeschwindigkeit von gut 300 km/h bewegt er sich bereits annähernd im Bereich des Mercedes-AMG F1 W11 EQ Performance aus dem Jahr 2020. Der W 25 ist Hightech der damaligen Zeit. Vollkommen normal ist beispielsweise noch bis in die 1950er-Jahre hinein, dass der Fahrer weder angeschnallt ist noch Helm trägt. Völlig ungeachtet dessen, dass etwa die aufzubringenden Lenk- und Bremskräfte erheblich sind und ihn keinerlei Elektronik oder Funkverbindung zur Box unterstützt.

Führend: In seiner ersten Saison ist der W 25 durchaus erfolgreich – unter anderem mit zwei Siegen in „Grandes Épreuves“. Ganz im Zeichen Caracciolas und des weiterentwickelten W 25 steht dann das Jahr 1935 mit dem überlegenen Sieg in der Grand-Prix-Europameisterschaft. 1937 tritt die Marke mit dem neuen W 125 an, und wieder dominiert Caracciola die Grand-Prix-Saison. 1938 tritt die nächste Rennwagenformel in Kraft. Mercedes-Benz setzt den W 154 ein. Am Jahresende heißt der Europameister erneut Caracciola. Im Rückblick urteilt Teamkollege Manfred von Brauchitsch über den Fahrstil des Champions: „Rudolf ist vielleicht der Größte überhaupt, weil er es fertigbrachte, wie auf Schienen zu fahren. Er war ein reiner, nüchterner, eiskalter Verstandesfahrer.“

Unfall mit Folgen: Rückblende in die Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1930. Die großen Hersteller ziehen sich aus dem Motorsport zurück. Um weiter fahren zu können, gründet Rudolf Caracciola daher 1933 gemeinsam mit dem Freund und Rennfahrerkollegen Louis Chiron den privaten Rennstall Scuderia CC. Bei Trainingsfahrten für den Großen Preis von Monaco am 23. April 1933 stellt sich sein Alfa Romeo quer und prallt seitlich auf eine Steintreppe. Caracciolas Hüfte ist zertrümmert. Viele Monate verbringt er im Krankenhaus, das rechte Bein wird für immer fünf Zentimeter kürzer bleiben als das linke. Schmerzen werden zum ständigen Begleiter. Alfred Neubauer, der langjährige Rennleiter von Mercedes-Benz, sagt Jahre später: „Es ist das Heldenhafte an Caracciola und hat etwas Übermenschliches, dass er seine allergrößten Jahre 1934 bis 1939 mit diesem körperlichen Defekt bewältigte.“

Der Rivale: Teamintern bekommt Caracciola im Jahr 1939 eine ebenbürtige Konkurrenz. Der ehemalige Rennmechaniker Hermann Lang ist nicht nur sehr schnell, sondern wird zumindest in den Augen Caracciolas bei Technik und Taktik deutlich bevorzugt. Caracciola beschwert sich beim Vorstand über die Benachteiligung in einem langen Brief und fordert, „mit gleichen Waffen wie seine Stallgefährten“ kämpfen zu dürfen. Die Drohung eines Rückzugs macht er allerdings nicht wahr. Am 23. Juli 1939 und damit nur wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist es dann wieder Caracciola, der gewinnt: den Großen Preis von Deutschland – zum sechsten Mal nach 1926, 1928, 1931, 1932 und 1937.

Privatleben: Noch zu Beginn seiner Karriere heiratet Caracciola 1926 seine Berliner Freundin Charlotte, genannt „Charly“. In seiner Biografie schreibt er: „Ich habe das gemeinsame Leben mit Charly […] unter die harten Gesetze meines Berufes gestellt. Sie half mir beim Training, sie kontrollierte meine Zeiten und die Zeiten meiner Gegner und sorgte für die nötige Entspannung nach schweren Monaten der Rennsaison.“ Im Winter 1933/1934 überredet er seine Frau, eine begeisterte Skifahrerin, an einem Skiausflug teilzunehmen. Charly Caracciola kehrt nicht zurück, sie wird Opfer eines Lawinenabgangs. Der leise und zurückhaltende Rennfahrer kapselt sich ab. Louis Chiron kümmert sich gemeinsam mit seiner Partnerin Alice Hoffmann-Trobeck um ihn. Diese und Caracciola finden zueinander, sie heiraten am 19. Juni 1937. Die weltgewandte und selbstständige Frau sagt später, dass sie sich bei Rudi geborgen fühle, das habe sie beim charmanten Monegassen Chiron vermisst.

Nachkriegsjahre: Die sechs Jahre des Zweiten Weltkriegs verbringt Rudolf Caracciola größtenteils in seiner Villa in Lugano-Ruvigliana hoch über dem Luganer See. Mercedes-Benz kann den bereits fixierten Rennvertrag nicht erfüllen. Als „widerrufliche Beihilfe“ erhält er jedoch ein Gehalt in der Höhe ausgeschiedener Direktoren. Zu tun gibt es für ihn nicht viel. Gartenarbeit und Radfahren ja, Wandern jedoch lässt sein Bein nicht zu. Mit Mercedes-Benz geht es erst 1952 weiter. Mit einer Limousine des Typs 220 (W 187) trägt er dazu bei, dass der Mannschaftspreis bei der Rallye Monte Carlo nach Stuttgart geht. Mit dem neuen 300 SL Rennsportwagen (W 194) belegt das Team Rudolf Caracciola/Paul Kurrle bei der Mille Miglia Anfang Mai 1952 Platz vier.

Das letzte Rennen: 30 Jahre nach seinem ersten Rennen 1922 auf der Berliner Avus und 28 Jahre nach seinen ersten Siegen mit einem Mercedes-Benz startet Rudolf Caracciola zum letzten Mal, am 18. Mai 1952 beim Großen Preis von Bern. Auf dem Bremgarten-Ring blockiert in der dreizehnten Runde das linke Hinterrad des 300 SL, dieser gerät außer Kontrolle und prallt frontal gegen einen Baum. Caracciola verletzt sich schwer am bisher unversehrten linken Bein, auch die Kniescheibe ist gebrochen. Einmal mehr folgt ein mehrmonatiger Klinikaufenthalt. Caracciola ist mittlerweile 51 Jahre alt, und ihm ist klar, dass er nie wieder ein Autorennen fahren wird.

Abschied: Nach dem Karriereende bleibt Rudolf Caracciola „seiner“ Marke Mercedes-Benz eng verbunden. Als hochgeachteter Repräsentant nimmt er viele Anlässe wahr. Doch im September 1959 wird er ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte diagnostizieren eine schwere Leberentzündung. Nach einigen Tagen im Koma stirbt Rudolf Caracciola am 28. September 1959 in Kassel. Rennleiter Alfred Neubauer findet diese Worte: „Er vereinigte in sich einen außerordentlichen Grad an Zuverlässigkeit, Konzentration, physischer Ausdauer und Intelligenz. […] Fangio gebe ich nach Caracciola als Zweitem das Prädikat, absolute Spitzenklasse‘. […] In der Anzahl der Siege bei Grands Prix, Langstreckenrennen, Bergsprints und Rekorden steht Caracciola einsam an der Spitze.“ Noch knapp zehn Jahre nach dem Abschied von diesem großen Rennfahrer schreibt Alice Caracciola am 14. Juli 1969 einem langjährigen Brieffreund: „Rudi wird wohl lange unvergesslich bleiben – ein silberner Streifen am Himmel der Rennfahrer.“