Die TecFabrik: Von der Idee über das Versuchsstadium zur Serienproduktion

Daimler ist bei innovativen Fertigungstechnologien führend. So hat das Unternehmen beispielsweise als erster Automobilhersteller die Potentiale des sensitiven Leichtbauroboters erkannt und in Pilotanwendungen erfolgreich für die Serienfertigung erprobt. Solche neuen Produktionskonzepte und -ideen testet Mercedes-Benz in der TecFabrik. Viele Applikationen haben bereits den Weg von der Idee über das Versuchsstadium in die Serienproduktion geschafft. Dazu zählen auch neuartige Logistiklösungen mit Fahrerlosen Transportsystemen (FTS).

Eine unscheinbare Außentreppe führt ins Allerheiligste der Produktionsspezialisten und Verfahrensentwickler von Mercedes-Benz: „Ringbahn“ heißt intern die blitzsaubere Versuchsfabrik in Gebäude 40, benannt nach dem Gehänge an der Decke, an dem Karosserien im Kreis transportiert werden können. Seit anderthalb Jahren ist dieser Bereich der TecFabrik im Werk Sindelfingen in Betrieb.

„Wir probieren hier Produktionsverfahren der Zukunft aus“, erläutert Andreas Friedrich, Leiter Technologiefabrik, Mercedes-Benz Cars, Daimler AG. „Im Idealfall schaffen die Applikationen von hier den Sprung in die Serienproduktion. Dann haben wir wieder Platz, um neue Ideen auszuprobieren.“ Die große Halle hat etwas von einer Erfindermesse: An mehreren Stationen tüfteln Ingenieure und Techniker und bedienen kleine und mittelgroße Roboter, die Bauteile greifen und bewegen oder Komponenten wie Karosseriestopfen oder Sonnenblenden montieren.

Mensch-Roboter-Kooperation: Hand in Hand und ohne Schutzzäune
Auffällig in der Versuchsfabrik: Es gibt keine Schutzzäune, alle Stationen sind frei zugänglich. „‘Fenceless Production‘ und Mensch-Roboter-Kooperation (MRK) sind die Fachbegriffe“, so Friedrich. „Diese neue, kooperative Form der Zusammenarbeit ohne Schutzzäune ist möglich, weil die Roboter der neuesten Generation sensitiv sind.“ Mit Hilfe ihrer Sensoren können intelligente Roboter ihren Nahbereich erfassen und Widerstand spüren. Zum Beispiel können sie ihren Bewegungsablauf stoppen, falls sich ein Mensch in ihrem Aktionsradius aufhält. Oder sie erkennen Kollisionen mit Werkstücken und können innehalten.
Ein direkter Kontakt zwischen Mensch und Roboter ist manchmal sogar ausdrücklich erwünscht: Auf einen Schubser hin nehmen einige Leichtbauroboter ihre Arbeit auf. Oder sie werden sprichwörtlich an die Hand genommen: Der Mitarbeiter bewegt ihren Gelenkarm an den Startpunkt der jeweiligen Aufgabe und schon legen die Helfer los. Beim so genannten „Robot Farming“ betreut ein Mitarbeiter oft mehrere Roboter.

Für die Bedienung der Roboter werden Programmierkenntnisse immer weniger erforderlich: Neben der eben beschriebenen direkten physischen Interaktion lassen sie sich zunehmend intuitiv steuern: über grafische Oberflächen auf Bildschirmen und Tablet-ähnlichen Eingabegeräten oder mit der 6D-Maus. Diese Weiterentwicklung der PC-Maus erlaubt die sechsachsige Bewegungssteuerung von Robotern direkt am Werkzeug. Auch solche neuen Schnittstellen entlasten den Menschen von monotoner und schwerer körperlicher Arbeit.

Doch auch wenn die kooperierenden Roboter quasi Hand in Hand mit dem Menschen arbeiten, gilt selbstverständlich „Safety first“ bei Mercedes-Benz. Alle Roboter müssen die hohen deutschen Anforderungen an die Arbeitssicherheit erfüllen, erst danach kommen sie in den anderen Werken rund um den Globus zum Einsatz. Daimler arbeitet dabei eng mit der Berufsgenossenschaft zusammen. Bei diesen umfangreichen Tests wird beispielsweise mit Kraftmessdosen überprüft, dass die Grenzwerte für Kräfte und Drücke bei einer Kollision eingehalten werden.

Ein gutes Beispiel für das ausgeklügelte Schutzkonzept bei Mercedes-Benz ist jener Roboter in der Versuchshalle, der Längsträger der E-Klasse bewegt. Unmittelbar neben diesem langen scharfkantigen Blechteil legt ein Mitarbeiter Kleinteile ein – früher undenkbar.

Stationen in der TecFabrik: Neue Lösungen für die Fabrik der Zukunft
Vom Geistesblitz über das Versuchsstadium bis zur Serienproduktion – diese Karriere absolvieren im Idealfall die Applikationen, die Mercedes-Benz in der TecFabrik erprobt. Hier einige der aktuellen Stationen im Überblick:

  • Mensch-Roboter-Kooperation (MRK) bei der Produktion von Doppelkupplungsgetrieben – Zusammenarbeit Hand in Hand: Ein moderner Leichtbauroboter montiert Komponenten des Doppelkupplungsgetriebes (DCT). Ob die Zähne der Kupplungsscheiben ineinander passen, konnte lange nur die menschliche Hand spüren. Sensitive Roboter der neuesten Generation sind jetzt aber ebenso in der Lage zu fühlen, ob die Bauteile noch hakeln – und daher bei der Montage leichte Bewegungen nötig sind – oder ob sie passen. Nach der Zertifizierung durch die Berufsgenossenschaft (BG) ist diese Roboter-Lösung bereits im Werk Untertürkheim am Standort Hedelfingen im Serieneinsatz.
  • Mensch-Roboter-Kooperation (MRK) und Fahrerloses Transportfahrzeug (FTF) beim Einbau der Batterie in ein Hybridfahrzeug — Mehr Flexibilität: Die Batterien für Elektro- und Hybridfahrzeuge sollen so viel Reichweite wie möglich bieten und sind daher entsprechend groß und schwer. Das macht ihre Montage ins Fahrzeug schwierig. Ein teures, sperriges und unflexibles Handhabungsgerät, ähnlich einem Kran, unterstützte den Arbeiter bislang. Aufgrund ihrer Größe musste die Batterie zudem vor und nach dem Einfahren durch die Kofferraumöffnung gedreht werden, um Beschädigung am Kofferraumausschnitt zu vermeiden. Ein moderner mittelgroßer Roboter, gesteuert entlang einer „virtual rail“, verbaut die Batterie jetzt mit hoher Wiederholgenauigkeit ohne Drehung und vereinfacht so die Produktion. Dabei überwacht der Mitarbeiter mit seinen sehr guten visuellen Fähigkeiten den Arbeitsraum des Roboters und entfernt bei Bedarf in der Einfahrkurve hängende Kabel. Weil der Roboter schnell reagiert, wenn sein Bediener die Hand von der Steuerung nimmt (Totmannschaltung), können Mensch und Maschine eng zusammenarbeiten. Im Zuge der Hybrid-Offensive von Mercedes-Benz wird diese Produktionstechnologie derzeit im Werk Bremen eingeführt.Durch Visualisierungen auf dem mitgeführten Programmiergerät (SmartPad) bekommt der Mitarbeiter zusätzlich Informationen zum Prozessablauf, Bahnfortschritt und aktuell notwendigen Aktivitäten angezeigt und erhält dadurch die Möglichkeit, mit dem Roboter zu kommunizieren und zu interagieren. Angeliefert wird die Karosserie für die Batteriemontage von einem Fahrerlosen Transportfahrzeug (FTF). Nur wer genau hinsieht, erkennt auf dem Hallenboden der TecFabrik das besondere Muster: In den Boden sind überall Permanentmagnete eingebaut. Dieses unsichtbare magnetische Raster dient zusammen mit dem jeweils vom Leitsystem per WLAN übertragenen Fahrkurs dem Fahrerlosen Transportfahrzeug (FTF) zur Navigation. Die Magnetrasternavigation ist sehr flexibel: Bei einer Umstellung in der Produktion muss nichts baulich verändert, sondern nur die Route im Leitsystem angepasst werden (mehr zu FTS in einem separaten Kapitel).
  • Human Augmentation: Kalibrierung von Head-up Displays mit mobilem Endgerät – Mensch ersetzt Roboter: Der Spiegel eines Head-up Displays (HUD) muss nach der Montage justiert werden, damit die Anzeige genau im Sichtfeld des Fahrers liegt. Bislang wird diese Kalibrierung durch zwei festinstallierte Roboter durchgeführt, bei der neuen E-Klasse kommt stattdessen bereits ein Leichtbauroboter auf einem Fahrwagen zum Einsatz (siehe Kapitel E-Klasse). Doch künftig geht es noch einfacher und flexibler: Ein Mitarbeiter setzt sich mit einem Tablet-Computer, der mit zwei zusätzlichen Kameras bestückt ist, hinter das Lenkrad. Die eine Kamera misst das Tablet auf einen bestimmten Punkt in der Instrumententafel ein. Auf dem Bildschirm erhält der Mitarbeiter über Pfeile Hinweise, in welche Position er das Tablet bringen muss. Ist diese erreicht, wird automatisch eine Aufnahme über die zweite Kamera ausgelöst und das Bild analysiert. Die abgeleiteten Einstellparameter werden über WLAN via OBD-Schnittstelle an das Steuergerät des HUD gesendet und dieses entsprechend justiert. Die zweite Kamera überprüft abschließend die Position und die Form des Bildes. Der Vorteil der neuen Methode gegenüber den bisherigen Verfahren: Deutlich geringere Kosten und erheblich mehr Flexibilität, denn der Mitarbeiter kann die Kalibrierung an einer nahezu beliebigen Stelle auf dem Montageband durchführen. Ein erster Kleinserieneinsatz der neuen Technik ist für Mitte 2016 geplant.
  • Virtuelle Montage: Endmontage des Fahrzeugs – Erproben mit dem Avatar: Ähnlich wie eine Spielekonsole mit Bewegungssteuerung den Schwung beim Golf und die Schläge beim Tennis nachahmt, werden bei der virtuellen Montage täuschend echt Bauteile in einem Fahrzeug befestigt. Durch das Erproben mit dem Avatar können erfahrene Mitarbeiter einschätzen, wie sich die jeweilige Arbeit am besten bewerkstelligen lässt. Diese Erkenntnisse setzt Mercedes-Benz dann in der Produktionsplanung um, etwa in der Vorbereitung der Produktion der nächsten E-Klasse. Mehr dazu im separaten Kapitel „Erproben mit dem Avatar“.
  • Mensch-Roboter-Kooperation (MRK): Endmontage mit InCarRob – Roboter an Bord: Beim so genannten „InCarRob“ sitzt der Roboter im Fahrzeug und übernimmt anstrengende Überkopf-Tätigkeiten, für die der Mensch zudem ein- und aussteigen müsste (eine so genannte „Rot-Punkt“-Tätigkeit in der Klassifizierung von Mercedes-Benz). Außerdem könnte der InCarRob auch dann tätig werden, wenn eine Karosserie innerhalb der Fabrik transportiert wird, und damit die Effizienz steigern. In der TecFabrik wird der „InCarRob“-Einsatz als Assistent bei der Montage des Dachhimmels und beim Verschrauben von Sicherheitsgurten, Sonnenblenden und Haltegriffen erprobt. Erstmals in einem Betriebsversuch wird diese Methode bei der Fertigung des Mercedes-AMG GT eingesetzt: Der Roboter montiert dort Rückwand und Hutablage und dreht dabei rund 20 M5- und M6-Schrauben in die Gewinde. Die Entwicklung hat auf den künftigen Einsatz des Verfahrens bereits reagiert: Für die „InCarRob“-Technologie sieht Mercedes-Benz entsprechende Aufnahmepunkte in der Karosserie vor und vereinheitlicht das Lochbild in allen Fahrzeugvarianten der C- und E-Klasse.
  • Augmented Reality: Produktionsplanung und Qualitätskontrolle mit mobilem Endgerät – Nützliche Einblendungen: Durch frühzeitige Verschmelzung realer und virtueller Planung lassen sich die Produktionsprozesse optimieren. So kann die Fertigungsqualität beispielsweise mit AURA (Augmented Reality Apps) auf einem mobilen Endgerät analysiert werden. Dazu erfolgt ein Soll-/Ist-Abgleich und virtuelle Bauteile werden im realen Umfeld bewertet. Ein anderes Beispiel für Augmented Reality ist die automatische Qualitätskontrolle mit IRIS (Intelligent Reporting and Information System). Dabei werden virtuelle Bilder des konstruktiven Soll-Zustands und reale, von einer Kamera aufgenommene Bilder des Ist-Zustands auf einem Bildschirm zusammengebracht. Beispielsweise wird so der Einbau einer Diagonalstrebe am Fahrwerk der aktuellen E-Klasse überprüft. Dies erspart aufwändige Nacharbeit in einem späteren Montageschritt und sichert Qualität.
  • 360°-Vernetzung: Remote-Zugriff auf Fertigungseinrichtungen – Jederzeit weltweit unterstützen: Voraussetzung für die Transparenz aller Fertigungsprozesse und das Anlagenmonitoring sowie Zugriff in Echtzeit ist, dass alle Elemente im System die gleiche Sprache sprechen. Mercedes-Benz stellt dies durch die durchgängige, weltweite Nutzung der Steuerungssoftware „Integra“ sicher: Von der Sensorebene an einzelnen Maschinen bis hin zur Produktionsleitung und ebenso in der Zusammenarbeit mit allen Lieferanten und Systempartnern. Zweite Voraussetzung ist die Ethernet-basierte Vernetzung aller Automatisierungskomponenten – mehr als 250.000 weltweit. Ein praktischer Vorteil: Bei Wartung und Problemen kann aus der Ferne sofort geholfen werden – so wird Stillstand von Anlagen vermieden und manche auch ökologisch ungünstige Dienstreise entfällt. Und Verbesserungen können für alle Werke übernommen werden. So konnten sich zum Beispiel die vier C-Klasse Werke (Bremen, Peking/China, East London/Südafrika, Tuscaloosa/USA) beim Anlauf gegenseitig unterstützen. Gezeigt wird der Zugriff in Echtzeit auf eine Rohbaustation in Tuscaloosa. Mehr dazu im nächsten Kapitel „Smart Factory“.
  • Durchgehend digitale Prozesskette: Powertrain — schnell und ohne Umwege in die Serie: Grundlage für alle Simulationen ist ein 3D-Modell aus der Konstruktion. Das Gieß- oder Schmiedekonzept wird in enger Zusammenarbeit mit der Konstruktion erarbeitet und mit umfangreichen Simulationen überprüft und optimiert. Für die ersten Sandguss-Prototypen-Bauteile werden nach der ersten Simulationsphase die Gusseinrichtungen mittels 3D-Sandprinten sprichwörtlich über Nacht erstellt. Die digitale Prozesskette wird in der mechanischen Bearbeitung der Bauteile fortgesetzt. Mit Hilfe der digitalen Produktionsplanung werden standardisierte Maschinenmodule sowie Fertigungsprozesse effizient miteinander kombiniert. Weiter werden NC-Programme für die komplette Bearbeitung mit allen Werkzeugen simuliert, optimiert und direkt an die Bearbeitungsmaschine zur Produktion der Teile weiter gegeben. Die bearbeiteten Teile fließen in die Montagelinie ein. Diese ist auf der gleichen Datenbasis komplett geplant. Ob sich alle Teile eines Motors auch verbauen lassen, in welcher Station welches Teil verbaut wird und welche ergonomische Belastungen dabei für die Mitarbeiter entstehen, wird digital simuliert und bewertet.

Quelle: Daimler AG