Welche Bedeutung hat die Aerodynamik für Sie?
Jan Frodeno: Aerodynamik spielt im zentralen Teil eines Langstrecken-Triathlon, dem 180 km Radfahren, eine ganz wesentliche Rolle. Besonders bei der Weltmeisterschaft auf Hawaii haben wir nicht nur mit dem Luftwiderstand an sich zu kämpfen, sondern auch mit starken böigen Winden. Das macht das Thema besonders komplex. Und man muss wissen: Nicht die Aerodynamik des Rades ist entscheidend, vielmehr das Zusammenspiel von Rad und Fahrer. Denn der Körper verursacht etwa 80 Prozent der Angriffsfläche für den Wind. Die perfekte Sitzposition zu finden, ist schon einige Stunden im Windkanal wert.
Teddy Woll: Aerodynamik ist ein intelligenter Weg, den Flottenverbrauch zu senken, und hilft auch, die Schere zwischen zertifiziertem und Realverbrauch zu schließen. Da der Luftwiderstand mit dem Quadrat der Geschwindigkeit wächst, bringt eine cw-Wert-Reduktion vor allem bei höherem Tempo Vorteile. Eine strömungsgünstige Gestaltung ist auch deshalb so wichtig, weil die Stirnfläche der Fahrzeuge in der Tendenz eher noch wächst: Die Menschen werden größer, die Batterie von Elektrofahrzeugen braucht Platz und viele Kunden bevorzugen ein SUV. Umso stolzer sind wir, dass wir es bei den neuen Kompaktwagen trotz breiterer Räder und größerem Platzangebot erstmals geschafft haben, nicht nur nochmal den cw-Wert zu senken, sondern auch die Stirnfläche zu verkleinern.
Über welche Größenordnungen bei der Aerodynamik sprechen wir beim Fahrrad bzw. Automobil?
Frodeno: Wer gemütlich auf einem Tourenrad unterwegs ist, hat einen Luftwiderstandswert von etwa 0,7 m². Ein Mountainbiker bewegt sich im Bereich von etwa 0,6 m², ein Rennradfahrer unter 0,5 m². Bei mir wurde – in Kombination mit Helm, ausgetüftelter Sitzposition und aerodynamisch optimiertem Rad – ein Luftwiderstand von 0,21 m² gemessen. Der Hollandradfahrer muss also den dreifachen Widerstand überwinden, und bei doppelter Geschwindigkeit schon den neunfachen!
Woll: Unser derzeit Bester ist die A-Klasse Limousine. Sie erreicht mit einem cw-Wert von 0,22 den aktuellen Weltrekord bei Serienfahrzeugen und besitzt eine Stirnfläche von rund 2,19 m². Das ergibt einen Luftwiderstandswert von 0,49 m². Zwei Personen in einer A-Klasse sind damit deutlich windschnittiger unterwegs als zwei Rennradfahrer – trotz dreifacher Stirnfläche.
Kann man den Vorteil einer besseren Aerodynamik in Zahlen fassen?
Frodeno: Da sich die äußeren Umstände permanent ändern, ist eine Quantifizierung in absoluten Werten unheimlich schwierig. Aber klar ist: Je weniger Energie ich brauche, desto schneller kann ich fahren – oder ich kann Kraft sparen für den abschließenden Marathonlauf. Wir Radsportler messen die Aerodynamik daher in Watt – die Kraft, die wir aufbringen müssen, um den Luftwiderstand zu überwinden – oder eben, wieviel Watt wir einsparen können bei einer angestrebten Geschwindigkeit von z.B. 45 km/h.
Woll: Gelingt es, den cw-Wert um ein Hundertstel zu senken, also beispielsweise von 0,24 auf 0,23, sinkt der Kraftstoffverbrauch im Kundenmittel um ein zehntel Liter, bei Autobahntempo 140 km/h um ca. 0,2 Liter je 100 Kilometer oder 5 Gramm CO2 pro Kilometer. Es gibt heute keine Maßnahme, die so viel Verbrauch reduziert zu so niedrigen Kosten. Um diesen Spareffekt im realen Verkehr durch Leichtbaumaßnahmen zu erzielen, müsste man die Autos um mindestens 50 Kilogramm abspecken, bei Autobahntempo 140 sogar um rund 200 kg.
Welche Verbesserung haben Sie im Laufe Ihrer Karriere erreicht?
Frodeno: Wir haben in den letzten Jahren vor allem mit meinem Radpartner Canyon viel an dem Rad an sich gearbeitet und haben den Lenker und das Cockpit verbessert. Zusätzlich haben wir auch an meiner Sitzposition getüftelt und auch einen neuen Helm entwickelt. Das hat alles Erfolge gebracht. Man muss aber auch immer die Biomechanik im Auge behalten. Denn man muss auch noch die Kraft aufs Pedal bringen können und vor allem bei einem Ironman die Sitzposition über 4 Stunden halten können. Es bringt nichts, wenn man im Windkanal 10 Watt an Windwiderstand einspart, dann aber die Position so „unkomfortabel“ ist, dass man 20 Watt weniger Leistung aufbringt oder danach nicht mehr richtig laufen kann. Diese Balance und den perfekten Punkt zwischen Aerodynamik und Biomechanik zu finden, ist bei uns die größte Herausforderung.
Woll: Einen Zielkonflikt mit anderen Anforderungen haben wir auch beim Auto – deswegen ist nicht immer jedes Modell strömungsgünstiger als sein Vorgänger. Aber generell haben wir in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Ein spektakuläres Beispiel ist der Sprung bei den SUVs, von der ersten M-Klasse mit cw 0,40 bis zum neuen GLE, der mit 0,29 einen neuen cw-Bestwert im Segment erreicht. Die Limousinen haben in diesem Zeitraum rund 20 Prozent Verbesserung zu verzeichnen. Große Fortschritte haben wir in den letzten Jahren durch die Digitalisierung des Entwicklungsprozesses gemacht, die Berechnung konnte massiv beschleunigt und stark verbessert werden. Digitale Fahrzeugmodelle haben heute über 100 Millionen Zellen und liefern uns schon über Nacht Resultate mit Genauigkeiten über 99 Prozent. Dieselbe Simulation hätte vor nicht allzu langer Zeit ein halbes Jahr gedauert und wäre noch sehr ungenau gewesen. Hinzu kommt, dass wir heute sehr gut mit den Kollegen aus dem Design zusammenarbeiten und ein hervorragendes Verständnis füreinander entwickelt haben. Und es macht uns schon stolz, dass wir auf diesem Gebiet den Trend für die ganze Autoindustrie setzen.
Und wo finden die Verbesserungen statt?
Frodeno: Schauen Sie sich mein aktuelles Rennrad an. Meine Partner von Canyon haben sich wirklich um jedes Detail gekümmert. Zum Beispiel besitzt mein Speedmax CF SLX ein maßgefertigtes Cockpit: Um die Stirnfläche möglichst klein zu halten, fräste Canyon einen speziellen Aufsatz, der mittig auf dem Vorbau sitzt. Und Continental hat für mich einen speziellen Reifen gefertigt, mit dem geringen Rollwiderstand des GrandPrix TT und dem verringerten Luftwiderstand des GrandPrix 4000 S2: Durch das Profil in der Lauffläche löst sich der Wind schneller ab, was gegenüber der glatten Lauffläche des TT ein bis zwei Watt Ersparnis bringt.
Woll: Das sind drei Bereiche – die Durchströmung des Motorraums, die Um- und Durchströmung der vorderen Räder und Radhäuser sowie der Unterboden. Diese Maßnahmen umfassen beispielsweise die neueste Generation von aktiven Kühlerjalousien, ein komplexes Zusammenspiel von 3D-Radspoilern, geschlitzten Radlaufschalen und Aero-Rädern, vollständig verkleidete Unterböden und bei einigen Fahrzeugen auch die aktive Niveauregulierung. Aber wir schauen uns jede Ecke am Fahrzeug genau an: von der Bugschürze mit all ihren Kanten und Öffnungen bis hin zu den kleinen Abrisskanten im Deckglas der Rückleuchten, um den Strömungsabriss am Heck zu perfektionieren.
Wird die Entwicklung denn weiter gehen, oder ist ein Endpunkt erreicht?
Frodeno: Die Entwicklung geht immer weiter, solange „Verrückte“ wie ich so akribisch hinter jedem Detail her sind. Wer gewinnen will, muss besser als die anderen sein. Und das bedeutet: Wer still steht, fällt zurück. Wir müssen permanent lernen, messen, verstehen, entwickeln – und wieder von vorn.
Woll: Genau das ist auch unsere Einstellung. Unser Firmenmotto „ Das Beste oder Nichts“ bringt das auf den gleichen Punkt. Natürlich kommen wir langsam an eine asymptotische Grenze heran, wenn wir die Autos nicht dramatisch in ihrem Aussehen verändern, also zum Beispiel deutlich länger und glatter machen und mit schmalen Hecks und schmalen Rädern ausstatten wollen. Zum Glück finden wir aber – sowohl im Windkanal als auch immer häufiger im Computer – immer noch Details, die wir noch optimieren können. Schließlich ist Aerodynamik der effizienteste Weg zu noch mehr Effizienz.
Die Gesprächsteilnehmer
Jan Frodeno (37) gewann als erster Triathlet sowohl die Goldmedaille bei Olympischen Spielen (Peking 2008) als auch den Titel bei der Ironman Weltmeisterschaft auf Hawaii (2015, 2016). Er ist der erfolgreichste Triathlet Deutschlands und auch weltweit eine Legende. Seit Juli 2016 hält er mit 7:35:39 Stunden auf der Triathlon-Langdistanz die Weltbestzeit, die er bei der Challenge Roth aufstellte.
Dr.-Ing. Teddy Woll (56) studierte Wirtschaftsingenieur-Wissenschaften der Fachrichtung Elektrotechnik an der TU Darmstadt. Er promovierte zum Thema „Messung des Augeninnendrucks bei geschlossenem Augenlid“ und entwickelte nebenher mit der Akasol Solar- und Leicht-Elektrofahrzeuge, die u.a. drei Mal die Tour de Sol gewannen. Nach zwei Jahren bei smart wechselte Woll 1996 in die Vorentwicklung der Daimler AG und leitet seit 1999 die Abteilung Aerodynamik und Windkanäle.
Der Aeroakustik-Windkanal: Messungen bis 265 km/h
Mit dem „Großen Windkanal“ in Stuttgart-Untertürkheim – vor 75 Jahren fand dort am 5. Februar 1943 die erste dokumentierte Messung statt – verfügte Mercedes-Benz als erster Automobilhersteller über einen Windkanal. Mit dem Aeroakustik-Windkanal im Entwicklungszentrum Sindelfingen, der seinen Betrieb im September 2013 aufnahm, setzte sich das Unternehmen wieder an die Spitze des aerodynamischen Versuchs. Der Windkanal folgt der Göttinger Bauart: Die Luft wird nach der Messstrecke wieder zum Gebläse geleitet und erneut auf bis 265 km/h beschleunigt. Bevor sie dann über eine Düsenfläche von 28 m² in die Messstrecke gelangt, muss sie gerichtet und geglättet werden, um störende Turbulenzen und Wirbel zu eliminieren. Dafür sorgen Gleichrichter und Siebe. Für die Nutzung als Akustik-Kanal, in dem die Windgeräusche innen und außen am Versuchsfahrzeug gemessen werden, wurden umfangreiche Geräuschdämm-Maßnahmen integriert. Noch bei 140 km/h strömt die Luft daher flüsterleise durch die Messstrecke.
Kernstück der 19 Meter langen Messstrecke des Windkanals ist das etwa 90 Tonnen schwere Laufband-Waage-System mit Drehscheibe. Fünf getrennte Laufbänder simulieren die Straße, deren relative Bewegung zum Fahrzeug die Luftströmung besonders am Unterboden beeinflusst. Das Laufband-Waage-System ist in eine Drehscheibe mit zwölf Meter Durchmesser integriert. So können die zu messenden Fahrzeuge auch unter einem Winkel angeströmt werden, um Seitenwind zu simulieren.
Der Aerodynamik-Weltmeister von Mercedes-Benz: A-Klasse Limousine
Frischer Wind beim Sprit sparen: Seit drei Jahrzehnten setzen die Aerodynamiker von Mercedes-Benz immer wieder Bestmarken. Aktuell belegt die neue A-Klasse Limousine mit einem cw-Wert von 0,22 und einem Luftwiderstand von weniger als 0,49 m2 den Weltrekord bei Serienfahrzeugen. Sie verteidigt damit den ursprünglichen Weltrekord des CLA Coupés, dessen neues Modell mit 0,23 cw weiterhin einen herausragend guten Wert erreicht.
Das gute Strömungsverhalten trägt entscheidend zum niedrigen Kraftstoffverbrauch unter Alltagsbedingungen bei. Durch eine Vielzahl von Berechnungsschleifen, CAE-Simulationen (computer aided engineering, rechnergestützte Entwicklung) und Messungen im Windkanal in Sindelfingen wurde die A-Klasse Limousine bis ins kleinste Detail verbessert. Neben der hervorragenden Außenform gibt es viele kleine Maßnahmen, die zu dem neuen Rekord geführt haben: eine ausgeklügelte Stirnflächenreduktion trotz deutlich besserer Komfortmaße im Innenraum, ein umfangreiches Dichtungskonzept (u.a. mit Abdichtung des Scheinwerferumfelds) sowie die nahezu vollständige Verkleidung des Unterbodens, die u.a. den Motorraum, den Hauptboden, Teile der Hinterachse und den Diffusor umfasst.
Speziell optimiert wurden die Radspoiler vorn und hinten, um die Räder möglichst verlustarm zu umströmen. Auch bei den Felgen und Reifen fand aerodynamischer Feinschliff statt. Auf Wunsch und je nach Markt ist ein zweiteiliges Jalousiesystem hinter der Kühlermaske erhältlich, das die Durchströmung des Motorraums minimiert.
Ende 2018 kam die A-Klasse Limousine auf den Markt. Das viertürige Stufenheckmodell hat den Radstand des Schrägheckmodells (2.729 Millimeter) und besitzt die Proportionen einer dynamischen und zugleich kompakten Limousine mit kurzen Überhängen vorne und hinten. Bei der Kopffreiheit im Fond setzt sie sich an die Spitze ihres Segments. Darüber hinaus verfügt die Limousine über die bekannten A-Klasse Tugenden. Dazu zählen moderne, effiziente Motoren, das hohe Sicherheitsniveau dank neuester Fahrassistenz-Systeme mit S-Klasse Funktionen und das intuitiv zu bedienende, lernfähige Infotainment-System MBUX – Mercedes-Benz User Experience.
Quelle: Daimler AG