Erstmals lässt Mercedes-Benz erste Journalisten mit seinem neuen Elektro-Flaggschiff fahren, der als elektrische Variante der S-Klasse gegen die Konkurrenz aus Zuffenhausen und Ingolstadt antreten soll. Mit dem Fahrzeug hat man aber auch den US-Autobauer Tesla im Blick. Ob und wie das neue Gefährt für die Stuttgarter der richtige Schritt in eine neue Ära ist, haben wir uns bei einer Testfahrt selbst angesehen.
EQS – ein erstes Modell der neuen Generation
Gegenüber den bisherigen rein elektrischen Modellen der EQ-Marke nutzt Mercedes-Benz nun keine umgerüstete Verbrennerplattform mehr, wie zuletzt beim EQC oder EQA, sondern zum ersten Mal eine eigens dafür entwickelte Plattform für Elektrofahrzeuge – intern kurz „EVA“ genannt, was für „Electric Vehicle Architecture“ steht. Auf dieser Basis mit flexiblem Radstand und Batteriegröße folgt später auch das EQE Modell auf E-Klasse Niveau, wie auch zwei SUVs. Hier kann man zur IAA 2021 im September bereits das EQE Serienmodell sowie ein (Maybach-) Showcar zum EQS SUV erwarten.
Aber zurück zum EQS Modell, welches mit einem Radstand von 3,31 Metern Länge eine Batteriekapazität von bis zu 107,8 kWh (netto) aufnimmt, was nach Werksangaben für eine WLTP-Reichweite von bis zu 780 Kilometern reichen soll.
Motorisierungen: vorab nur zwei Varianten
Bei den Motorisierungen bietet man zuerst zwei Leistungsstufen an: das Reichweitenmodell EQS 450+ mit reinem Heckantrieb sowie den EQS 580 4MATIC mit Allradantrieb und dann zwei E-Motoren (jeweils Permanentmagnet-Synchronmotoren, kurz: PSM) . Leistungsmäßig unterscheiden sich beide Varianten erheblich: während die kleinere Variante über 245 kW / 333 PS und 568 Nm verfügt, bietet die andere Version beachtliche 385 kW / 523 und 855 Nm.
Wo die Batteriewerte hier identisch bleiben, unterscheiden sich die Fahrzeuge beim angegebenen Werksverbrauch. Der EQS 450+ wird mit minimal 15,7 kWh pro 100 km nach WLTP angegeben, der 580 4MATIC mit 17,4 kWh. Werte, die durchaus beachtlich sind, aber in der Realität höher liegen sollten. Bei der Beschleunigung liegt der EQS 580 4MATIC bei 4,3 Sekunden auf die 100 km/h-Marke, der EQS 480+ liegt hier bei 6,2 Sekunden.
Für entsprechenden Stromnachschub sorgt eine AC-Ladung mit 11 kW sowie optional auch 22 kW. Die Schnellladung des 400 Volt Systems an entsprechenden DC-Stationen über CCS Lader absolviert das Modell mit bis zu 200 kW, wobei die Ladekurve ziemlich lange hochgehalten wird und erst bei 70-80 Prozent langsam abfällt.
Für die Kühlung des Motors nutzt Mercedes eine sogenannte Wasserlanze, die im Rotor steckt und so für die richtige Temperatur sorgt. Vorteil dabei: man kann die E-Limousine wiederholt voll beschleunigen, – und das mit voller Leistung. Auf eine Wärmepumpe verzichtet man beim EQS hingegen.
Außendesign erinnert an die Konkurrenz
Optisch tritt der EQS ganz anders an, wie man es von den Stuttgartern und deren Oberklasse überhaupt gewohnt ist. Statt einer Stufe nutzt man nun einen einzigen Bogen im Design – „One-Bow“ genannt, wobei das Modell ganz anders aussieht als das Showcar der letzten IAA in Frankfurt. Das Dach ist nun höher sowie das Heck kürzer als erwartet. Eleganter war hier wohl definitiv das Showfahrzeug. Mercedes nennt das Gesamtdesign einen „Aufbruch in eine neue, atemberaubend sinnliche Ära“ als „Purpose Design“.
Das Design hat aber auch Vorteile: neben einen cw-Wert von 0,20 profitieren besonders die Leute im Fond vom großen Radstand und den kurzen Überhängen. Die Beinfreiheit ist sogar größer als bei der normalen – also kurzen – S-Klasse (W223). Eine Kofferraumklappe bis ins Dach sowie eine umklappbare Rücksitzbank bietet Zugang von 610 bis 1.770 Liter Stauraum. Eine ebene Ladefläche besitzt das Modell jedoch nicht.
Die Motorhaube vorne lässt sich vom Nutzer hingegen nicht öffnen und bietet somit keinen „Frunk“, stattdessen aber einen sehr großen Hepa-Filter für saubere Luft im Innenraum. Das Scheibenreinigungswasser befüllt man so notgedrungen unterhalb der A-Säule durch eine separate Klappe auf der Fahrerseite.
Interieur mit optionalen Hyperscreen
Im Interieur zeigte Mercedes-Benz uns ausschließlich Fahrzeuge mit dem neuen Hyperscreen (Mittelkonsole und Fahrerdisplay in OLED-Technik), welche auf den ersten Blick eine gebogene Glasfläche ist, die sich von Tür zu Tür spannt. Dahinter befinden sich jedoch drei einzelne Bildschirme, die selbst dem Beifahrer einen eigenen Screen zugesteht. Wie uns die Entwickler beim Fahrtest zusicherten, sind für den Falle eines Unfalls entsprechende Vorkehrungen mit u.a. Sollbruchstellen getroffen, um Insassen vor Kopfverletzungen zu schützen.
Der Fahrer erhält zusätzlich das von der S-Klasse bekannte (XXL)-Head-Up LCD Display mit Augmented Reality Funktionen. Inwieweit man den Hyperscreen benötigt, dessen Aufpreis nicht unerheblich sein wird, bleibt aber fraglich. Die Basisausstattung ist optisch identisch zur Verbrenner-Variante der neuen S-Klasse und für die meisten Kundenansprüche wohl auch vollkommen ausreichend.
Das MBUX System (NTG 7) selbst lernt Gewohnheiten von bis zu sieben Fahrern und schlägt automatisch bestimmte Schritte in der Bedienführung vor. Hier verspricht man immer genau die Menüpunkte direkt auf den Bildschirm anzuzeigen, die man eben gerade benötigt.
Im Innenraum lässt der EQS die gerade erst vorgestellte S-Klasse bereits jetzt nahezu schon klassisch – wenn nicht gar altmodisch – wirken. Dabei bietet das Modell ein modernes Design mit viel Platz – und dass auch im Fond. Beeindruckend sind aber auch die Komforttüren, welche die Fahrertür automatisch schließen und eben auch öffnen lässt. Zur Absicherung nutzt man dabei nicht nur die Seitenkameras, sondern auch seitliche Ultraschallsensoren. Alle Türen selbst sind über das Display im Innenraum automatisch bedienbar.
Fahrtest im EQS 580 4MATIC
Beim Fahrtest sind wir sowohl den EQS 450+ sowie den EQS 580 4MATIC gefahren. Wer hier den künstlichen Fahrsound deaktiviert, genießt eine absolute Stille. Vorteilhaft zeigt sich hier also der geringe Luftwiderstand mit nahezu keinen Windgeräuschen, wie auch die werkseitige zusätzliche Umschäumung aller Antriebskomponenten. Lediglich der leicht einsetzende Regen in der Nähe von Zürich machte sich an der Frontscheibe bemerkbar. Hier übertrifft man deutlich das bisherige Niveau der S-Klasse.
Vorteilhaft macht sich auch die serienmäßige Luftfederung bemerkbar, wie auch für den Fahrer selbst die Hinterachslenkung mit bis zu zehn Grad Lenkwinkel. Unterstützt wird der Fahrer auch mit einem intelligenten Rekuperationsprogramm: hier nutzt man Sensoren der automatischen Abstandsregelung und die Daten der Navigation dafür, die E-Maschine als Generator zu nutzen und so die mechanische Bremse weitestgehend überflüssig zu machen. One-Pedal bis zum Stillstand ist hier im Fahrprogramm „D-Auto“ möglich.
Das Fahrwerk verfügt über eine Vierlenker-Vorder sowie Fünflenker-Hinterachse, Luftfederung und adaptiven Dämpfern. Die Aufbaubewegungen bleiben ohne Wankstabilisierung überschaubar. Bei der Beschleunigung hebt sich das Fahrzeug vorne leicht und drückt mit dem Heck. Die Lenkung spricht feinfühlig an, arbeitet präzise und bietet trotzdem noch genügend Rückmeldung von der Straße.
Beim spontanen Antritt schieben beide Motorisierungen das über 2,5 Tonnen-Gefährt mehr als überzeugend nach vorne, wobei die Beschleunigung bereits im sonst üblichen AMG-Bereich der Verbrenner liegt. Abgeriegelt wird – untypisch für eine S-Klasse – jedoch bereits bei 210 km/h. Im direkten Vergleich tritt die größere Variante besser an als das Reichweitenmodell. Beide Varianten bringen den Vortrieb jedoch sehr gut auf die Straße.
Beim Fahrkomfort zeigte sich das neueste Produkt aus dem Werk Sindelfingen von der besten Seite mit deutlichem Abstand von der US-Konkurrenz von Tesla. Unebenheiten auf der Straße federt das Fahrzeug problemlos weg, wobei man beim EQS eine Bereifung mit hohen Flanken nutzt. Neben dem serienmäßigen Luftfahrwerk sorgen die neu gestalteten Sitze aber auch für einen überragenden Fahrkomfort. Massage inklusive. Das Fahrzeug ist spurtreu, lenkt direkt ein und ließ sich selbst auf Bergstrecken sehr gut um die Kurven zirkeln. Hier macht sich vor allen die Allradlenkung bemerkbar, die in Serie mit 4.5 Grad – optional aber auch mit 10 Grad erhältlich sein wird.
Beim Testverbrauch des EQS 450+ lagen wir teils deutlich unterhalb von 16 kWh auf 100 km, sofern wir auf eine gleichmäßige Fahrt achteten. Bei Autobahntempo von rund 120 km/h lag der Verbrauch zwischen 15-16 kWh. Die Effizienz des Fahrzeuges ist beachtlich und wohl das sparsamste E-Fahrzeug der Stuttgarter, der problemlos selbst gegen das Model 3 von Tesla gewinnen würde. Eine Reichweite von deutlich über 600 km auf der Autobahn ist problemlos machbar und übertrifft somit auch die meisten Verbrenner. Der gefahrene EQS 580 4MATIC genehmigte sich hingegen jeweils grobe 2 kWh mehr auf 100 km.
Bei einer kurzen Zwischenladung des Fahrzeugs bei IONITY zeigte sich eine Ladeleistung von bis zu 205-206 kW, wobei wir innerhalb von 5 Minuten grobe 100 km Reichweite nachladen konnten. Bei 80 Prozent hielt die Ladekurve noch leicht über 100 kW. Im Schnitt lag unsere Ladeleistung dann doch bei rund 160 kW.
Electric Intelligence: Reichweitenangst ade !
In Kombination mit dem Navigationssystem mit Berücksichtigung von eventuell notwenigen Ladestopps – Mercedes nennt dies „Electric Intelligence“ – braucht man sich wieder der Routenplanung selbst widmen, als sich Gedanken um notwendige Stopps zu machen. Dabei hilft das System automatisch, die unbedingt notwendige Ladung vorzuplanen – benötigt für die Berechnung aber auch einiges an Zeit. Der Fahrer kann sich rein dem Fahren widmen, als sich um die Reichweite Gedanken zu machen. Und bequemerweise erfolgt an immer mehr Stationen die Lade-Authentisierung mittels „Plug and Charge“ bereits automatisch, was z.B. bei immer mehr IONITY Stationen bereits jetzt gut funktioniert. Eine Funktion, die Tesla-Fahrer aber schon lange kennen.
Auf Langstrecke überlässt der EQS dabei nichts den Zufall: während man bereits den gewünschten Ladezustand bei der Ankunft an der Säule oder am Ziel vorgeben kann, lassen sich einzelne Ladepunkte entlang der Strecke mit bestimmten Kriterien auf Fahrerwunsch auch neu suchen und austauschen. Selbst die kW-Stärke der Ladestation ist einstellbar, z.B. Ladepunkte erst ab 150 kW mit in die Navigation mit einbeziehen.
Das Fahrzeug ist im Sommer bestellbar und wird voraussichtlich im Herbst beim Händler stehen. Genaue Details dazu gab man uns vor Ort nicht bekannt.
Was uns aufgefallen ist:
- Bequeme und zuverlässige Navigation unter Einbeziehung der Ladepunkte
- Schnellladung auch kurzzeitig oberhalb der Werksangabe von 200 kW (DC)
- Ladezeit von 10 auf 80 % (SoC) in 32 Minuten
- Rekuperation in drei Stufen, bis 290 kW, Verzögerung maximal 5 m/s².
- Leider viel sichtbare Fingerabdrücke auf den Displays
- Bequeme und ruhige Fahrt auf S-Niveau mit viel Platz
- Keine Dämmung aus dem Laderaum in Richtung Fahrgastzelle
- Keine komplett flache Ladefläche im Kofferraum
- Langes Fahrzeug, welches als Selbstfahrer-Modell ausgelegt ist
- Rund 2.5 to schwer, davon entfallen 670 kg für die Fahrbatterie
- Drei Rekuperationsmodi (D-, D+ sowie D-Auto)
- Angegebener Werksverbrauch EQS 580 4MATIC: 20,0-16,9 kWh/100 nach NEFZ / 21,8-17,4 kWh/100 km nach WLTP.
Fazit: EQS – ein Vorbote für die Zukunft
Das EQS Modell von Mercedes-Benz überrascht bei mehreren Punkten, sei es bei Komfort, Effizienz oder Aerodynamik. Kritik konnten wir nicht finden, wobei uns das Fahrzeug vor allen beim Verbrauch und der Laufruhe mehr als begeisterte. Die erste von Grund aus elektrisch konzipierte (Coupé)-Limousine mit Stern „sitzt“ also und braucht sich keinesfalls von der Konkurrenz verstecken, ist sie gar schon einige Längen voraus.
Ob man jedoch jede Ausstattungsoption benötigt, sollte man sich jedoch bei der Bestellung doppelt gut überlegen: hier entscheidet zukünftig nicht nur der Geldbeutel, sondern wird auch mit einer (leicht) unterschiedlichen Reichweite quittiert.
Während die Stuttgarter die Verbrenner-Variante der S-Klasse gern als „bestes Auto der Welt“ bezeichnen, hat man hier wohl nun das beste Elektroauto der Welt im Angebot. Ein guter Schritt der Stuttgarter, zumal man hier alles richtig gemacht hat. Der erste „rein elektrische Schuss“ musste sitzen – und tut es auch.
Die Ausstattung unseres Testwagens im Überblick:
- EQS 580 4MATIC, Edition One
- AMG Line Exterieur
- Avantgarde Line Interieur
- Zweifarbenlackierung obsidianschwarz/hightechsilber
- Fahrassistenz-Paket
- DIGITAL LIGHT mit Projektionsfunktion
- Park-Paket mit 360°-Kamera
- Hinterachslenkung mit 10°
- URBAN GUARD Fahrzeugschutz Plus
- KEYLESS-GO mit flachenbündigen Türgriffen
- Komforttüren automatisch
- Servoschließen der Türen
- Einbruchhemmendes Verbundsicherheitsglas mit Wärme- und Geräuschdämmung
- Panorama-Schiebedach
- Aktive Ambientebeleuchtung
- Doppelten Sonnenblende
- ENERGIZING Paket vorn
- ENERGIZING Paket Fond
- Designgurtschlösser vorn und hinten
- Fondsitze elektrisch einstellbar inklusive Memory-Funktion
- Einstiegsleisten mit „EDITION One“ Schriftzug, beleuchtet
- ENERGIZING AIR Control
- Sidebags im Fond
- Multifunktions-Telefonie
- Kommunikationsmodul (LTE Advanced) für die Nutzung von Mercedes me connect
- MBUX Augmented Reality Head-up-Display
- Burmester 3D-Surround-Soundsystem
- Soundpersonalisierung
- Beifahrer-Display
- MBUX Entertainment
- TV-Tuner
- MBUX High-End Fond-Entertainment
- Kabelloses Ladesystem für mobile Endgeräte im Fond
- MBUX Fond-Tablet
- USB-Paket Plus
Weitere Infos zum EQS 450+ gibt es übrigens auch bei den Kollegen von autophorie.de
Bilder: MBpassion.de / Philipp Deppe / Fahrbilder mit Unterstützung der Daimler AG