Der Entschluss, eine kompakte Baureihe unterhalb der jeweiligen Mittelklasse einzurichten, beschäftigt die Entscheidungsträger bei der Daimler-Benz AG in den 1920er‑ und 1930er-Jahren und seit den frühen 1950er-Jahren immer wieder. Es entstehen mehrere oft weit fortgeschrittene Projekte, die aber aus verschiedenen Gründen nicht verwirklicht werden.
In den frühen 1970er-Jahren erfährt das Projekt eines kompakten Mercedes-Benz dann einen Schub aus einer Richtung, mit der man nicht rechnet: Der unter dem US-Präsidenten Jimmy Carter eingeführte „Clean Air Act“, eine Gesetzgebung für die Luftreinhaltung, legt mit den Vorschriften der „Corporate Average Fuel Economy“ (CAFE) den Flottenverbrauch der in den USA angebotenen Fahrzeugpalette jedes Herstellers fest. Für das Jahr 1985 beträgt er 27,5 Meilen pro Gallone (8,5 Liter auf 100 Kilometer). Das beschreibt eine Herausforderung für viele Automarken und auch Mercedes-Benz: Denn die in den USA angebotene Modellpalette, längst einer der bedeutendsten Exportmärkte der Stuttgarter Marke, liegt im oberen Marktsegment und Leistungsspektrum mit einem resultierenden Flottenverbrauch oberhalb der genannten Grenze. Resultat: Aus einem Exportmarkt heraus entsteht der Druck, eine neue kompaktere und damit verbrauchsgünstigere Modellreihe zu entwickeln, um den Flottenverbrauch zu senken.
Der Impuls für den W 201 kommt aus den USA
Im Januar 1974 legt Entwicklungschef Prof. Dr. Dr. Hans Scherenberg Eckpunkte für einen solchen Mercedes-Benz fest. Er formuliert: „Klar ist hierbei doch, dass es sich um einen typischen Mercedes-Benz handeln muss. Wir können also an der Fahrkultur, der Sicherheit und entsprechenden spezifischen Mercedes-Benz Eigenschaften nicht zu viele Abstriche machen.“ Das von ihm unterzeichnete erste Lastenheft zur Baureihe 201 legt bereits am 4. Februar 1974 Folgendes fest: „Mit diesem Produkt ist nicht daran gedacht, in die Märkte der Mittelklasse einzudringen, die beispielweise von Opel und Ford seit Jahren behauptet werden. Vielmehr soll sich der Typ 201 von jenen aufgrund der unter dem Markensymbol vom Kunden erwarteten Eigenschaften bezüglich Qualität, Sicherheit und Fahrkultur bewusst absetzen.“ Prof. Dr. Werner Breitschwerdt, ab 1977 Nachfolger von Scherenberg als Entwicklungschef, ändert an diesen Punkten aus Überzeugung nichts.
Damit ist ein Auftrag umrissen, der fast der Quadratur des Kreises nahekommt: Die traditionellen Mercedes-Benz Markenwerte wie Komfort, Sicherheit, Langlebigkeit und Zuverlässigkeit, bisher perfekt über alle Generationen in größeren Fahrzeugen umgesetzt, sollen nun auf ein kompaktes Fahrzeug – ohne Einschränkung – übertragen werden. Als umfassende Ingenieursaufgabe ist das eine erhebliche Herausforderung. Kein Wunder somit: Als im November 1982 die neuen kompakten Fahrzeuge der Baureihe 201 in Sevilla, Spanien, der Weltpresse vorgestellt werden, ist die Erwartungshaltung unter den Journalisten riesig. Und sie wird nicht enttäuscht.
Beim Design gelingt die erste Überraschung. Unter der Leitung von Bruno Sacco entsteht ein Fahrzeug, welches Eigenständigkeit und Familienzugehörigkeit gleichermaßen in sich vereint. Darüber hinaus zeichnet den kompakten Mercedes-Benz ein niedriger cw-Wert von 0,33 und ein modernes schnörkelloses Design aus, dem außerdem eine jugendlich-dynamische Eleganz nicht abzusprechen ist.
In allen Belangen ein typischer Mercedes-Benz
Ein wesentlicher Qualitätsbaustein ist seit Generationen bei Mercedes-Benz die aktive und passive Sicherheit. Auch hier setzt die Baureihe 201 Maßstäbe, sowohl im internen als auch im externen Vergleich. Zur aktiven Sicherheit, bei der die Raumlenker-Hinterachse mit jeweils fünf in verschiedenen Graden angeordneten Lenkern eine wesentliche Rolle spielt, vermerkt seinerzeit zum Typ 190 E das Fachmagazin „auto motor und sport“ in Heft 1/1983: „Bei der Auslegung des Fahrwerks ließen sich die Daimler-Benz-Techniker von der Vorstellung leiten, ein möglichst hohes Maß an Fahrsicherheit zu vermitteln, ohne darunter die Freude an den dynamischen Abläufen verkümmern zu lassen. So wurde der 190 E der kurvenfreudigste Mercedes-Benz überhaupt, mit einem weitgehend neutralen Eigenlenkverhalten, sehr hoher möglicher, fast völlig fehlenden Lastwechseln – und eben viel Fahrvergnügen bietend. […] Tatsächlich ist die Mühelosigkeit, mit der der 190 E Krümmungen nimmt, geradezu verblüffend. Für den normalen 190 E-Fahrer können die Reserven, die das Fahrwerk bietet, beruhigend wirken.“
Dazu trägt wesentlich die unter Dr. Kurt Enke erdachte und nach dessen frühem Tod durch Manfred von der Ohe konstruierte Raumlenker-Hinterachse bei. Sie wird maßgebend für alle weiteren Hinterachskonstruktionen von Mercedes-Benz. Aber auch außerhalb des Unternehmens wird sie im Laufe der Jahre Pate für viele andere Hinterachskonstruktionen. Somit setzt die Baureihe 201 als vergleichsweise kleines Fahrzeug von Mercedes-Benz die Tradition des Trendsetters für zukunftsweisende Konstruktionsideen fort.
Ohne Kompromisse in Sachen Sicherheit, Komfort und Design
Bei der passiven Sicherheit geht die Baureihe 201 ebenfalls keine Kompromisse ein. Das führt zum sichersten Fahrzeug in seiner Klasse und steht nicht hinter der S-Klasse jener Jahre zurück, der Baureihe 126. Noch 1991 zeigt ein Fahrzeug der Baureihe 201 anlässlich eines Offsetcrashs im Vergleich zu deutlich jüngeren Mitbewerbern ein vorbildliches Maß an passiver Sicherheit.
Somit: In allen wichtigen Punkten wird die zu Beginn fast als Utopie betrachtete Zielvorgabe umgesetzt, aus der Baureihe 201 einen in allen Belangen typischen Mercedes-Benz zu machen – ohne Kompromisse im Hinblick auf die wichtigen Markenwerte. Das ebnet nicht nur dem „190er“ in allen Motorvarianten den Weg zum Erfolg. Zugleich eröffnet er mit all seinen Eigenschaften erfolgreich das Segment der kleineren Fahrzeuge für Mercedes-Benz. Die Marke setzt die weltweite Erfolgsgeschichte von Mai 1993 an mit der Baureihe 202 fort, die erstmals den Namen C-Klasse trägt. Als „Baby-Benz“ gestartet, ist die Mercedes-Benz C-Klasse heute eines der beliebtesten Fahrzeuge im Premiumsegment.
Bilder: Daimler AG