Im Jahr 1967 konzentrierte sich die weltweite Automobilentwicklung in Stuttgart: Mercedes-Benz stellte nach umfangreichen Erweiterungen seine hochmoderne Versuchsstrecke in Untertürkheim der Öffentlichkeit vor. Diese Anlage, die bis dahin streng geheim gehalten wurde, diente der umfassenden Prüfung von Fahrzeugen unter verschiedensten Bedingungen. Die Presse erhielt am 9. Mai 1967 einen exklusiven Einblick in die Anlage, die seither als unverzichtbares Werkzeug für die Fahrzeugentwicklung gilt.
Eine Reaktion auf das Wirtschaftswunder
Die 1950er-Jahre waren eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland, bekannt als das „Wirtschaftswunder“. Mercedes-Benz profitierte enorm von dieser Entwicklung und baute seine Modellpalette stetig aus. Ob Limousinen, Lastwagen, Sportwagen, Rennwagen oder Nutzfahrzeuge wie der Unimog – das Unternehmen hatte für jede automobile Anforderung das passende Modell im Portfolio. Diese Expansion stellte die Ingenieure jedoch vor neue Herausforderungen: Die Entwicklung der Fahrzeuge musste schneller, effizienter und präziser erfolgen, um der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden.
Bereits 1953 erkannte Dr. Fritz Nallinger, der damalige Entwicklungschef der Daimler-Benz AG, die Notwendigkeit einer vielseitig einsetzbaren Versuchsstrecke direkt am Werk Untertürkheim. Sein Vorschlag: Eine Anlage auf einem langgestreckten, unternehmenseigenen Grundstück, dem sogenannten „Flaschenhals“. Der Vorstand stimmte dem Plan zu, und so wurde 1955 das Baugesuch bei der Stadt Stuttgart eingereicht. Bereits 1957 ging die erste Ausbaustufe der Einfahrbahn in Betrieb.
Umfangreiche Erweiterungen und neue Möglichkeiten
Die anfängliche Versuchsstrecke umfasste bereits eine Rutschplatte mit verschiedenen Fahrbahnbelägen wie Blaubasalt, Beton und Rutschasphalt, auf denen Fahrzeuge unter unterschiedlichen Bedingungen getestet werden konnten. Doch schon bald zeigte sich, dass die Anlage den wachsenden Anforderungen der Fahrzeugtests nicht mehr vollständig gerecht wurde. Insbesondere für Schnellfahr-, Dauer- und Schlechtwegeversuche sowie die Erprobung von Nutzfahrzeugen auf Steilstrecken waren weitere Erweiterungen notwendig.
Im Zuge dieser Erweiterungen entstand eine umfassende Testinfrastruktur, die es Mercedes-Benz ermöglichte, seine Fahrzeuge unter extremen Bedingungen zu prüfen. Die Gesamtlänge aller Versuchs- und Prüfstrecken beträgt nach dem Ausbau 15.460 Meter, darunter eine 3.018 Meter lange Schnellfahrstrecke. Besonders beeindruckend sind die Steilkurven mit einem Durchmesser von 100 Metern und die sieben verschiedenen Steilstrecken mit Neigungen von bis zu 70 Prozent. Die Steilwandkurve, die theoretisch mit bis zu 200 km/h befahren werden könnte, demonstriert die physikalischen Grenzen solcher Tests.
Ein weiteres Highlight der Strecke ist die sogenannte „Heidestrecke“, ein Schlechtwegeparcours, der maßstabsgetreu einer besonders schlechten Straße in der Lüneburger Heide der frühen 1950er-Jahre nachgebaut wurde. Hier testet Mercedes-Benz die Dauerhaltbarkeit von Fahrzeugen unter extremen Bedingungen. Diese Tests sind so belastend, dass die Fahrer alle zwei Stunden abgelöst werden müssen. Auch extreme Verwindungsstrecken für Nutzfahrzeuge und Geländewagen sowie Sprunghügel zur Erprobung von Federungen sind Teil der Anlage.
Innovationen und Weltneuheiten
Ein besonderes Highlight der erweiterten Anlage ist die Wedelstrecke, eine weltweite Neuheit, die von Rudolf Uhlenhaut, dem damaligen Versuchschef, eingeführt wurde. Auf dieser Strecke wird die Fahrstabilität von Fahrzeugen bei hohen Geschwindigkeiten und abrupten Fahrbahnwechseln getestet. Dabei liefern im Boden verlegte Messschleifen elektronische Daten, die zusammen mit den Bewertungen der Testfahrer in die Fahrwerksabstimmung einfließen. Diese Tests werden zudem mit Radar und anderen Messverfahren aufgezeichnet und auf Film festgehalten, um eine präzise Analyse zu ermöglichen.
Ein weiteres innovatives Element ist die Seitenwindstrecke, auf der 16 Turbinen seitliche Böen mit Geschwindigkeiten von bis zu 100 km/h erzeugen können. Diese Strecke dient der Prüfung der Fahrsicherheit bei widrigen Wetterbedingungen und ist für die Entwicklung stabiler und sicherer Fahrzeuge von großer Bedeutung.
Kontinuierliche Weiterentwicklung
Auch nach der Fertigstellung der umfassenden Erweiterungen im Jahr 1967 blieb die Versuchsstrecke ein lebendiges Zentrum der Innovation. Die Anlage wurde immer wieder an neue Anforderungen angepasst. So entstand beispielsweise eine Strecke mit Flüsterasphalt, die speziell für die Geräuschmessung konzipiert wurde. Die kontinuierliche Aktualisierung der Testmöglichkeiten macht die Einfahrbahn in Untertürkheim bis heute zu einem der wichtigsten Entwicklungswerkzeuge von Mercedes-Benz.
Fazit
Die Versuchsstrecke in Untertürkheim ist weit mehr als nur eine Ansammlung von Straßen und Kurven. Sie ist ein Symbol für den technischen Fortschritt und die Innovationskraft von Mercedes-Benz. Die Anlage hat seit ihrer Eröffnung im Jahr 1967 unzählige Fahrzeuge durch anspruchsvollste Tests begleitet und bleibt auch nach vielen Jahrzehnten ein zentrales Element der Fahrzeugentwicklung. Dank dieser Testmöglichkeiten kann Mercedes-Benz bis heute die hohen Standards in Qualität, Sicherheit und Fahrdynamik sicherstellen, für die das Unternehmen weltweit bekannt ist.
Bilder: Mercedes-Benz Group AG