Das Kurvengenie von 1997: der F 300 Life-Jet von Mercedes-Benz

Im Jahre 1997 stellte Mercedes-Benz auf der IAA in Frankfurt den F 300 Life-Jet vor, der das Fahrerlebnis und die Kurvendynamik eines Motorrads mit der Sicherheit und dem Komfort eines Autos verknüpfen sollte. Der eigens für das Fahrzeug entwickelte neue Lichtsensor ging dann im Jahr 1998 in der Baureihe W220 – der S-Klasse – in Serie.

Ein Dreirad mit Kurvenneige-Technik hat es bis in das Jahr 2003 noch nicht gegeben. Um es zu verwirklichen, wurde von Mercedes-Benz die aktive Wanksteuerung Active Tilt Control (ATC) entwickelt. Ein aufwendiges elektronisches System berechnet den Neigungswinkel je nach Geschwindigkeit, Beschleunigung, Lenkeinschlag und Gierverhalten des Fahrzeugs, sodass die Karosserieneigung stets der aktuellen Fahrsituation entspricht.

Die Steuerbefehle der Elektronik werden an einen Hydraulikzylinder an der Vorderachse gegeben. Je nach Lenkeinschlag drückt er eines der beiden Federbeine nach außen, sodass Rad und Karosserie in die vom Computer berechnete Schräglage gehen. Der maximale Neigungswinkel beträgt 30 Grad. Spezielle Reifen, die große Sturz- und Schräglaufwinkel ermöglichen, werden zusammen mit einem Reifenhersteller entwickelt. Die Felgen des F 300 Life Jet bestehen aus Magnesium und bringen nur etwa 75 Prozent des Gewichts einer herkömmlichen Motorrad-Aluminiumfelge auf die Waage.

Leichtbau-Chassis aus Aluminium
Das Chassis des Zweisitzers ist aus Aluminium gefertigt und wiegt nur 89 Kilogramm. Die Karosserieform orientiert sich am Jet-Design. Sie ist so lang wie ein üblicher Personenwagen, doch nicht so breit – Voraussetzung dafür, sich in die Kurven legen zu können. Im F 300 Life Jet finden zwei Personen hintereinander Platz. Zu den Besonderheiten der Karosserie zählen eine nach oben öffnende, platzsparende Schwenktür für den Fahrer, eine nach hinten schwenkbare Tür für den Beifahrer und ein festes, zweigeteiltes Dach aus Aluminium und transparentem Kunststoff. Bei schönem Wetter lassen sich beide Dachhälften mit wenigen Handgriffen demontieren und in einem Stauraum über den Hinterrädern ablegen. So verwandelt sich der F 300 Life Jet in einen offenen Roadster.

Die Lichttechnik entspricht dem ungewöhnlichen Fahrzeugkonzept. Der Frontscheinwerfer hat drei Reflektorbereiche und zwei Glühlampen. Die Elektronik des Scheinwerfers sorgt für eine bestmögliche Fahrbahnausleuchtung auch in Kurven: Sie ist mit dem Computer der aktiven Wanksteuerung gekoppelt, dreht den Scheinwerfer je nach Karosserieneigung und schaltet bei Bedarf ein spezielles Kurvenlicht dazu. Die Streubreite des Abblendlichts vergrößert sich dadurch um mehr als 80 Prozent. Ein Lichtsensor steuert das Fahrlicht. Es schaltet sich bei Einbruch der Dunkelheit oder bei der Einfahrt in einen Tunnel automatisch ein. Neontechnik kommt in den Blink-, Brems- und Positionsleuchten zum Einsatz. Die schmalen Röhren sind in den Kotflügeln untergebracht.

Getriebe mit „sequenzieller Gangwahl“

Der Motor – ein 1,6-Liter-Aggregat der Mercedes-Benz A-Klasse – und das elektrohydraulisch geschaltete Getriebe (Shift-by-Wire) befinden sich in einer platzsparenden Position zwischen Innenraum und Hinterrad. Die Kraft wird über einen Zahnriemen an das Hinterrad gegeben. 75 kW (102 PS) erlauben eine Beschleunigung von null auf 100 km/h in 7,7 Sekunden und eine Höchstgeschwindigkeit von 211 km/h. Der Verbrauch liegt bei 5,3 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometer. Geschaltet wird nach dem Tritt auf das Kupplungspedal durch eine leichte Vorwärts- und Rückwärtsbewegung des Schalthebels an der rechten Seite des Cockpits. Diese Technik wird „Sequenzielle Gangwahl“ genannt. Sie ermöglicht besonders schnellen Gangwechsel und unterstreicht den dynamischen Charakter des Fahrzeugs.

Das Cockpit des F 300 Life Jet erinnert wohl eher an ein Flugzeug. Lenkrad, Instrumente, Schalthebel und Sitze haben Jet-Charakter und vermitteln dem Fahrer den Eindruck, in der Pilotenkanzel eines Flugzeugs Platz zu nehmen. Das Segment-Lenkrad ist zudem aktiver Teil der Schaltzentrale. In die Seitenbereiche seiner Prallfläche sind die Tasten für die Bedienung von Autoradio und Telefon integriert, sodass der Fahrer die Hände nicht vom Volant nehmen muss.

Vom Rechner in die Forschungswelt
Der F 300 Life Jet ist das erste Forschungsfahrzeug, das von Mercedes-Benz komplett am Rechner entworfen und dann zum Leben erweckt wird. Damit dient es nicht nur der Erprobung neuer Fahrzeugtechnik, sondern auch eines Konstruktionswerkzeugs namens CASCaDE (Computer-Aided Simulation of Car, Driver and Environment), das von (der damaligen) Daimler-Benz AG entwickelt worden ist. Der Computer liefert per Simulation bereits früh Informationen über das Fahrverhalten des F 300 Life Jet. Das Unternehmen geht ungewöhnliche Wege, wenn sie der Weiterentwicklung des Autos und der Mobilität dienen – dafür steht der F 300 Life Jet. Er könnte – so dachte mal damals – sogar eine neue Art von Fahrzeugen etablieren, die alles vereinen, was sich moderne Menschen für den perfekten Spaß auf Rädern wünschen: das Frischluft-Vergnügen eines Cabriolets, die Individualität eines Roadsters, die Fahrleistungen eines Sportwagens, den Komfort eines Kompaktwagens und die Sicherheit eines Mercedes-Benz.

Bilder: Mercedes-Benz Group AG